Tochter des Glueck
aber es liegen noch mehr Tote da, auch der Mann und die Frau, die versucht haben, ihr totes Baby als Kaninchenfleisch zu verkaufen. Niedergeschmettert betrete ich das Gründrachendorf. Immer wenn ich denke, dass es nicht schlimmer werden kann, passiert noch etwas. Ich betrete das Haus. Tao sitzt allein da, fast genau so, wie ich ihn vor vier Tagen verlassen habe. Im Haus herrscht eine unheimliche Stille. Die Kinder sind weg. Taos Mutter ist weg.
»Du hättest nicht zurückkommen sollen«, sagt er.
»Ich kann sonst nirgendwohin.« Ich setze mich auf den Boden, halte mir Samantha an die Schulter und klopfe ihr leicht auf den Rücken. »Wo sind die anderen?«
»Nachdem du gegangen bist, war ich zur Arbeit auf den Feldern.« Er schließt die Augen. »Als ich nach Hause kam, waren die Männer von Brigadeführer Lai dabei, sie zu begraben …« Er öffnet die Augen und starrt mich an.
Zum ersten Mal seit Wochen knurrt mein Magen nicht, verspüre ich keinen entsetzlichen Hunger, aber ich bekomme ein flaues Gefühl. »Was ist passiert?«
»Sie haben ein Loch gegraben. Sie haben meine Mutter und die kleinen Kinder hineingesteckt. Dann haben sie Erde auf sie geworfen. Sie haben sie bei lebendigem Leib begraben.«
Das ist furchtbar und widerwärtig, aber ich denke bei mir, vielleicht können sie sich glücklich schätzen. Sie müssen nicht mehr leiden.
»Du sagtest, die kleinen Kinder. Was ist mit Jie Jie und deinen älteren Geschwistern?«
»Briagdeführer Lai hat sie mit Parteisekretär Feng Jin und Sung-ling aus dem Dorf vertrieben.«
»Wohin?«
Tao schüttelt den Kopf. »Das will mir niemand sagen.«
»Und was ist mit dir?«
Ich fand immer, dass er ein schönes Lächeln hat. Nun verzerrt sich sein Gesicht zu der Totenmaske, wie ich sie bei so vielen Leichen gesehen habe – ausgezehrte, zurückgezogene Lippen, die zu viel Zahnfleisch entblößen, und Zähne, die aussehen wie getrocknete Knochen.
»Ich stelle eine Lektion für die anderen im Dorf dar.«
Ich sollte fragen, wie der Brigadeführer von dem »Kind-tauschen-Essen-kochen«-Plan von Taos Familie erfahren hat, aber eigentlich ist es mir egal. Ich möchte um die Kinder weinen, doch ich habe keine Tränen mehr. Für die anderen sollte ich vielleicht mehr Mitleid empfinden, aber ich tue es nicht. Diese Leute wollten mein Baby eintauschen, um essen zu können. Darüber hinaus rechne ich bereits aus, wie lange mein Süßkartoffelmehl vorhalten wird, wenn nur zwei Menschen statt elf davon leben müssen. Denn aufgeben werde ich nicht. Der Himmel verschließt nie alle Türen. Daran muss ich fest glauben.
Ich zwinge mich aufzustehen. Ich hole alle meine Habseligkeiten hervor. Fast alles davon hat mir meine Mutter oder meine Tante geschenkt oder geschickt: Damenbinden, aber ich bin so schwach, dass ich seit Samanthas Geburt keine Periode mehr hatte, das Beutelchen mit den drei Sesamkörnern, drei Mungobohnen und drei Kupfermünzen, das mich schützen sollte, aber vielleicht zu meiner letzten Mahlzeit wird, die hübschen Babysachen von Bullock’s Wilshire, die Sam wahrscheinlich nie tragen wird, weil sie nicht lange genug lebt, und die Kamera meiner Mutter. Sie hat sie zusammen mit dem Film dagelassen, damit ich Bilder von meinem neuen Leben mache, doch bis zu diesem Augenblick kam mir der Apparat nutzlos vor.
Ich schmiede einen letzten, verzweifelten Plan, nehme ein Stück Papier und schreibe meiner Mutter einen Brief. Ich muss meine Worte so formulieren, dass Brigadeführer Lai den Brief durchgehen lässt und meine Mutter trotzdem versteht, was ich ihr sagen will. Ich lese den Brief noch einmal durch und stecke ihn in einen wattierten, aus einem Stück Stoff genähten Umschlag. Dann binde ich mir Samantha auf die Brust, nehme die Kamera und den unverschlossenen Brief und verlasse das Haus.
Ich gehe am Hofhaus vorbei und weiter über den Pfad am Bach entlang. An der Abzweigung zum Pavillon der Wohltätigkeit bleibe ich stehen. Das war schon immer ein wenig begangener Weg, deshalb konnten Tao und ich ihn so leicht einschlagen, ohne von anderen beobachtet zu werden. Ich setze mich auf einen Stein, nehme das andere Teigbällchen heraus, das mir der Wachmann im Zug geschenkt hat, und esse es. Ich muss klar und schnell denken können. Ich trinke aus dem Bach, dann gehe ich weiter zur Führungshalle. Ich umrunde das Gebäude und hoffe inständig, das zu finden, was ich brauche. Gleich vor der Tür der privaten Küche des Brigadeführers entdecke ich ein paar
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