Tochter des Glueck
kann. Doch jetzt saugt sie an meiner leeren Brust, zu schwach zum Klagen. Das Schwein leidet immer schweigend.
Ich schließe die Augen. Im Wind und in meinem Herzschlag höre ich die Stimmen der Vergangenheit. Meine beiden Mütter, meine beiden Väter und mein lieber Onkel versuchten alle, mir begreiflich zu machen, dass ich eine völlig falsche Vorstellung von der Volksrepublik China hatte. Am Anfang, damals an der Universität von Chicago, dachte ich, Sozialismus und Kommunismus wären etwas Gutes, alle Menschen sollten alles teilen, und ich fand es ungerecht, dass meine Familie in Amerika gelitten hatte, während andere schicke Autos fuhren, in großen Häusern lebten und in Beverly Hills einkauften. Ich lief weg und kam hierher, in der Hoffnung, eine ideale Welt vorzufinden, meinen leiblichen Vater zu suchen, meiner Mutter und meiner Tante aus dem Weg zu gehen und meine Schuldgefühle zu bekämpfen. Nichts davon funktionierte so, wie ich es erwartet hatte. Die ideale Welt war voller Scheinheiligkeit und Menschen wie Z. G., die auf Partys gingen, während die Massen litten. Dadurch, dass ich meinen leiblichen Vater fand, wurde ich nur daran erinnert, wie wunderbar mein Vater Sam war. Er liebte mich bedingungslos, während Z. G. mich als Muse wollte, als hübsche Tochter, mit der er angeben konnte, als physische Manifestation seiner Liebe zu Tante May, als Künstlerin, die widerspiegeln würde, was für ein großer Künstler er ist. Ich dachte, ich könnte meine inneren Konflikte durch Idealismus lösen, doch durch das Lösen meiner inneren Konflikte zerstörte ich meinen Idealismus.
Während ich meiner Tochter ins Gesicht blicke, wird alles ganz klar. Meine Mutter und meine Tante liebten mich, standen mir zur Seite und unterstützten mich, egal, was war. Sie waren beide gute Mütter. Mein größter Kummer und Schmerz ist, dass ich selbst keine gute Mutter bin und meine Tochter nicht retten kann. Ich bete, dass Samantha in unseren letzten Tagen und Stunden wissen wird, wie sehr ich sie liebe.
T EIL VIER
Der Drache erhebt sich
P EARL
Durch einen Faden getrennt
A ls ich Anfang April eines Tages vom Papiersammeln nach Hause komme, finde ich ein Päckchen von Joy vor. Endlich! Ich eile nach oben in mein Zimmer und schließe die Tür. Das Päckchen ist völlig unversehrt, das heißt, niemand hat es geöffnet oder gelesen, was es enthält. Ich bin so aufgeregt, dass ich mich ganz ungeschickt anstelle, als ich mit der Schere den von Hand zugenähten Umschlag aufschneide. Eine Filmrolle und ein paar Federn fallen auf das Bett. Ich nehme eine der Federn in die Hand und betrachte sie genau. Warum schickt mir Joy Federn? Ich schiebe sie beiseite. Doch wie sehr freue ich mich über den Film! Endlich bekomme ich meine Enkeltochter zu sehen. Der Brief, der das Datum von vor zwei Wochen trägt, enthält Informationen, die mich froh stimmen: »Siehst du den Überfluss, in dem wir hier leben? Jeden Abend essen wir Huhn.« (Das erklärt vielleicht die Hühnerfedern.) Sie schreibt von ihrem Baby. Sie beschreibt den Wandbild-Sputnik, den die Kommune geschaffen hat, und überschlägt sich in Dankesbezeugungen gegenüber Brigadeführer Lai für seine Rolle bei der Fertigstellung des Projekts. Der Brief endet mit der Bitte um weitere Süßigkeiten. Es ist genau, wie ich zu hoffen wagte. Auf dem Land ist alles besser. Ich bin erleichtert und sehr froh, dass es ihr so gut geht.
Ich gehe zum Wintergarten und klopfe an Duns Tür. Ich lese ihm den Brief vor und zeige ihm den Film.
»War sonst noch etwas dabei?«, fragt er.
»Das war alles. Warum fragst du?«
»Sie wirkt so optimistisch. Aber die Zeiten sind eigentlich alles andere als rosig.«
»Sie hat ein Baby und einen Ehemann. Sie ist dort, wo sie sein möchte.«
Er nickt bedächtig und denkt darüber nach.
»In dem Päckchen waren auch ein paar Hühnerfedern«, füge ich hinzu. »Ich dachte nicht …«
»Zeig sie mir.«
Wir gehen zurück in mein Zimmer, und ich zeige ihm die Federn. Dun betrachtet sie ernst.
»Pearl, vielleicht bedeutet es ja nichts, und ich möchte dich auch nicht beunruhigen, aber da, woher meine Familie kommt, war eine Hühnerfeder ein dringendes Zeichen für eine Notsituation.«
Ich kenne mich mit den Sitten und Gebräuchen auf dem Land überhaupt nicht aus, aber Joy hat sie nun wohl gelernt. Sofort ändert sich meine Stimmung, und ich bekomme Angst.
Ich halte den Film hoch. »Vielleicht hat sie hiermit auch eine Botschaft geschickt. Und wenn es
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