Tochter des Glueck
Wahrscheinlich hat Kumei einen Soldaten geheiratet, der durch diese Gegend kam. Er muss während der Befreiung gefallen sein. Da ihr Mann ein Held war, erlaubten ihr die Dorfbewohner, im Hofhaus zu wohnen, wo sie sich um ihren Sohn und Yong kümmert, die ebenfalls Witwe ist, denn in der Neuen Gesellschaft wurde das Hofhaus in ein Witwenheim umgewandelt. Vielleicht stimmt gar nichts davon, aber mir gefällt die Geschichte. Und ich mag Kumei. Ihr Name bedeutet Bittere Schwester , aber mir kommt sie gar nicht bitter vor. Sie kann nicht lesen und schreiben, doch die Bürden der Vergangenheit konnten sie nicht entmutigen. Nachmittags besucht sie gemeinsam mit vielen anderen Bauern Kurse, um sich zu bilden.
Kumei lässt ihren Sohn bei Yong, und zusammen machen wir uns auf den Weg zu den Feldern. Z. G. bleibt im Hofhaus. Ich bin von weit her gekommen, um ihn kennenzulernen, und ich bin nun schon einen Monat da, aber er ist mir immer noch ein Rätsel. Er hat kaum Fragen nach May oder gar nach mir gestellt, und auch ich habe mich zurückgehalten, obwohl ich ihn eigentlich gerne besser kennen würde. In seiner Gegenwart bin ich schüchtern und weiß nie so recht, was ich sagen soll. Vielleicht ist er ebenfalls schüchtern. Oder er ist einfach noch nicht daran gewöhnt, eine Tochter zu haben. Vielleicht kann er nie so für mich empfinden, wie es mein Vater Sam getan hat.
Es ist Ende September. Die Luft ist noch warm, aber nicht so drückend wie bei meiner Ankunft. Wir gehen an Reisfeldern vorbei, die Rispen haben sich braun gefärbt. Dann steigen wir den kleinen Hügel gegenüber vom Hofhaus hinauf. Ich halte den Kopf gesenkt und tue so, als hielte ich nach Furchen oder Steinen auf dem Weg Ausschau, während ich immer wieder verstohlen nach oben zum Hügel blicke, wo Taos Haus steht. Es sieht aus wie viele andere Häuser – klein, aus irgendwelchen Quadern gebaut und mit Lehm bedeckt –, nur ist es das einzige, das nach Norden ausgerichtet ist. Die Fenster sind nur Öffnungen, genau wie im Hofhaus. Das Schindeldach ist flach und krumm. Ein paar Felsbrocken bilden eine Stützmauer, sodass gleich vor der Eingangstür eine kleine Terrasse liegt. An eine der Außenwände ist ein Holzofen angebaut, was es Taos Mutter nicht leichtmacht, bei Regen zu kochen. Eine Holzleiter mit gebrochenen Sprossen liegt schief auf dem Boden, aber seit meiner Ankunft hat sich niemand die Mühe gemacht, sie zu reparieren. Am Hofhaus hängen der getrocknete Fisch und die Schweinsfüße geschützt im ersten Hof; hier ist alles einfach kreuz und quer an eine Außenwand genagelt, gerade hoch genug, dass es sicher vor Hunden und Nagetieren ist. Tropfende Wäsche hängt an einer Leine: Taos Unterhemden, die weiten Hosen seines Vaters, die dunklen Tuniken seiner Mutter, die Kleidung seiner acht kleinen Geschwister. Das Haus wirkt sehr ländlich und romantisch auf mich. Meine Mutter wäre entsetzt; sie würde es als erbärmliche Hütte bezeichnen.
»Tao wurde im Jahr des Hundes geboren«, sagt Kumei, der aufgefallen ist, dass ich zu dem Haus schaue. »Jeder weiß, dass der Hund und der Tiger ideal zusammenpassen.«
»Ich suche niemanden, der zu mir passt.«
»Nein, natürlich nicht. Du doch nicht. Deshalb müssen wir ja jeden Morgen genau zur gleichen Zeit hierherauf laufen. Du willst ja niemanden im Besonderen treffen.«
»Nein.«
Aber das stimmt nicht. Wenn May mich so einfach aufgeben konnte und wenn Z. G. kein Interesse daran hat, mich richtig kennenzulernen, dann vielleicht Tao … Vielleicht finde ich doch jemanden, der mich der Liebe für wert befindet …
»Einen Hund mag jeder«, fährt Kumei fort. »Ein Hund weiß, wie er gut mit anderen zurechtkommt und wie er ihnen die Hand leckt. Er ist treu, selbst wenn er seiner Ehefrau gehorchen muss. Jeder weiß, dass er sich als Retter eignet. Musst du gerettet werden?«
Wenn sie nur wüsste.
»Was ist mit dir?«, frage ich. »Du bist doch ein Schwein, nicht wahr? Vielleicht solltest du Tao heiraten.« Nichts von dem, was ich sage, meine ich ernst, aber vielleicht lenken meine Fragen sie ab.
»Ja«, stimmt sie mir zu und überlegt. »Das könnte funktionieren. Aber ich bin Witwe und habe ein Kind. Mich wird jetzt niemand mehr heiraten wollen.«
»Aber wir sind doch im Neuen China, und es gibt das neue Ehegesetz. Witwen …«
Als wir uns Taos Haus nähern, tritt er hinaus in den Sonnenschein. Es sieht fast so aus, er hätte er im Schatten auf uns gewartet. Ich bin nicht die Einzige, der das
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