Tochter des Glueck
Ping-lis Ehemann schmähen. Adrenalin schießt mir in die Adern, als Genosse Feng Rui eine weiße Schleife an die Brust gesteckt wird.
»Von nun an wirst du diese Schleife der Anklage tragen«, erklärt Sung-ling. »Jeder, der dich sieht, weiß sofort, was für ein rechtsgerichtetes Element du bist.«
Damit wird Feng Rui weggeführt, und die öffentliche Schmähung ist beendet. Ich bin aufgeregt, bereit für meine Starrolle. Rasch zwicke ich mir noch in die Wangen, damit sie Farbe bekommen, denn niemand von uns ist geschminkt. Wir müssen den Abend positiv beenden, und dafür wird unsere letzte Szene sorgen.
Ich nehme meinen Platz an einem Tisch mit einem der Schauspieler ein, die der Bezirk geschickt hat. Er heißt Sheng. Ich muss gar nicht so genau hinsehen, um zu merken, dass er die Lektion über das Zähneputzen nicht allzu ernst genommen hat, und es ist auch ziemlich offensichtlich, dass er sich in letzter Zeit nicht gewaschen hat. Wir spielen Mann und Frau in einer unglücklichen Ehe. Wir sind beide Fischer. Wir streiten darüber, wer die Hausarbeit erledigt, wer auf die Kinder aufpasst, wer näht und wer die Wäsche macht. Dann gehen die Vorwürfe vom Privatleben auf das öffentliche Leben über.
»Du möchtest also zur See fahren, um zu zeigen, wie stark du bist«, spottet Sheng über mich. »Das ist fast so, als würde man von einem Küken verlangen, eine Sojabohne zu schlucken. Irgendwann wirst du daran ersticken.«
»Aber ich bin nicht erstickt! Ich fahre genauso auf dem Meer der Revolution wie das gesamte chinesische Volk. Ich trotze Wind und Wellen und öffne den Frauen einen neuen Weg! Meine Genossinnen und ich haben Mao-Zedong-Ideen auf die Fischerei übertragen. Mein Boot hat über siebenhundert Tonnen Fisch gefangen. Alle arbeiten, damit alle zu essen haben!«
Mein Mann ist nicht zufrieden mit meiner Antwort, und mit mir ist er noch weniger zufrieden. Ich habe ihn vielleicht beim Fischfang geschlagen, aber nun schlägt er mich körperlich. Er will mir nichts zu essen geben. Er sperrt mich aus dem Haus aus, damit ich draußen schlafen muss. Auf den Filmsets wurde ich als Mädchen immer gelobt, dass ich auf Befehl weinen konnte, wenn der Regisseur »Action!« rief. Jetzt lasse ich die Tränen fließen. Ich bin so traurig, so bedauernswert, offenbar gibt es keinen Ausweg für mich. Ich nehme ein Fleischermesser und will es mir ins Herz stoßen. Selbst die Männer im Publikum weinen aus Mitleid mit meinem kläglichen Leben.
In dem Moment blicke ich auf und sehe ein Plakat zum Thema Ehegesetz. Ich betrachte die Bilder und erkläre, was ich sehe: »Eine überstürzte Heirat ist keine gute Grundlage für eine Ehe. Selbstmord ist keine Lösung, wenn man unglücklich ist. Die Scheidung wird bewilligt, wenn Mann und Frau es beide wollen.«
Als ich mich umdrehe, sitzt eine Jury bei mir am Küchentisch. Ich erzähle ihnen meine unglückliche Geschichte. Mein Mann gibt seine Version zum Besten. Schließlich wird mir entsprechend dem Ehegesetz die Scheidung gewährt. Mein Mann und ich gehen als Freunde auseinander. Ich gehe zu meinem Fischerboot zurück und er zu seinem.
»Die dunklen Wolken des Elends wurden vertrieben«, verkünde ich dem Publikum. »Der blaue Himmel trat zutage. Die Harmonie wurde wiederhergestellt.«
Nach diesem Schlusswort verbeugen wir uns. Unsere kleine Vorstellung war nicht so professionell wie ein Film oder eine Fernsehsendung, aber das Publikum war begeistert. Ich bin froh und euphorisch – wie nach jeder Vorstellung. Während sich die Dorfbewohner auf den Heimweg machen, helfen Tao, Kumei, Sung-ling und ich noch der Truppe vom Bezirk, ihre Kostüme und Requisiten auf den Karren zu laden, der dann zur nächsten Straße ein paar Meilen entfernt geschoben wird. Sobald sie den Platz verlassen haben, geht Kumei mit ihrem Sohn die paar Schritte zurück zum Hofhaus.
»Danke für deine Hilfe«, lobt mich Sung-ling.
»Danke, dass ich dabei sein durfte«, antworte ich. »Ich bin froh, dass ich die Chance hatte, zu …«
»Plustere dich nicht zu sehr auf«, fällt mir Sung-ling ins Wort. »Einzelne sollten niemals den Ruhm für sich beanspruchen, wenn etwas gut gelungen ist. Das Lob geht an unsere Mannschaft und an unser Kollektiv.«
Sie nickt energisch und wendet sich zum Gehen. Außer Tao und mir ist kaum jemand auf dem Platz. Ich würde jetzt gerne irgendwo auf dem Weg eine Cola trinken oder ein Eis essen, so wie zu Hause, denn ich möchte noch nicht zurück zum Hofhaus. Ermutigt
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