Tochter des Glücks - Roman
werden das Geschwätz und das Gelächter von den Lautsprechern übertönt, aus denen Neuigkeiten aus der Hauptstadt dringen, patriotische Musik und Anfeuerungen, ein besseres China zu bauen.
Ich finde Joy, die vor ihrem Mann und ihrem Schwiegervater kniet und sich um deren übel zerschnittene Füße kümmert. Ich setze mich neben sie auf den Boden, um ihr zu helfen. Sie haben keine Lederschuhe. Sogar Sandalen tragen sie nur selten. Ihre Füße sind voller Hornhaut, aber nicht hart genug, um durch Felder mit Glasscherben zu laufen. Ich schaue Joy von der Seite an. Ihr Mund bildet eine entschlossene Linie, während sie ihrem Schwiegervater Glasscherben aus den schwieligen, rissigen und blutenden Füßen zieht. Begreift sie nicht, wie irrsinnig das ist? Sieht kein Mensch, was für Fehler hier begangen werden? Als sie meinen Blick spürt, schaut sie in meine Richtung. Sie verzieht den Mund zu einem Lächeln, und ich lächle automatisch zurück. Ist ihr Lächeln eine Entschuldigung oder Ausdruck ihrer Verlegenheit? Ich sage mir, dass ich nicht hier bin, um Kritik zu üben, auch wenn ich das sehr gerne tun würde. Ich sage mir, dass Joy glücklicher aussieht als an dem Morgen nach ihrer Hochzeit. Ich sage mir, dass sie sich mir anvertrauen wird, wenn ich ihr Zeit gebe.
Boing, boing, boing . Eine neue Woche, ein neuer Monat. Ich ziehe die gleichen Sachen an und setze mein immer gleiches Lächeln auf.
In der Kantine werden die Berichte über die außergewöhnlichen Aktivitäten in anderen Kommunen, die uns über den Lautsprecher erreichen, mit vielen Ooohs und Aaahs begrüßt. »Geht hinaus, steckt euch hohe Ziele, erreicht größere, schnellere, bessere und wirtschaftlichere Ergebnisse«, liest der Sprecher begeistert vor. »In Hunan wurden Rettiche gezogen, die groß wie Babys sind. In Hopei wuchsen Melonen größer als Schweine. In Kwangtung haben Schulkinder einen Kürbis mit einer Papaya, Bauern eine Sonnenblume mit einer Artischocke und Wissenschaftler der Regierung Tomaten mit Baumwolle gekreuzt, um rote Baumwolle zu produzieren!« Das kann unmöglich wahr sein, doch alle hören so etwas gerne. Wir können jegliche Art von Aufmunterung gebrauchen, wenn wir die beste Ernte seit Jahren einbringen wollen, wie alle sagen.
In der Kommune findet heute ein Wettbewerb statt. Welches Dorf – das Mondteichdorf, das Schwarzbrückendorf oder das Gründrachendorf – erntet am schnellsten? Ich werde zum ersten Mal einen ganzen Tag auf den Feldern verbringen, da jede Hand gebraucht wird, wenn das Gründrachendorf gewinnen soll.
»Du musst genügend Wasser trinken«, rät mir Joy. »In der Pause solltest du eingelegtes Gemüse essen, das hilft gegen den Salzverlust. Und leere dir bei jeder Gelegenheit die Schuhe aus, damit du keine Blasen bekommst. Das musste ich auf die harte Tour lernen!« Sie strahlt glücklich. »Bleib bei mir. Ich zeige dir, was du machen musst.«
Sie bindet mir ein Kopftuch um und drückt mir einen großen Strohhut auf den Kopf. Dann reicht sie mir eine Sichel. Ich hatte bisher noch nie eine in der Hand. Joy lässt ihre hin- und hersausen, um mir die Bewegung zu demonstrieren. Sie schnappt sich einen Korb, und wir nehmen mit den anderen aus dem Gründrachendorf die uns zugeteilten Arbeitspätze in einem Feld goldener Reispflanzen ein. Brigadeführer Lai bläst in eine Pfeife. Joy und ich arbeiten Seite an Seite, so schnell wir können. Wusch, wusch, wusch. Sauber arbeiten wir allerdings keineswegs, und viele Stängel werden gar nicht abgeschnitten.
»Was ist mit den Körnern, die auf den Boden fallen?«, frage ich.
»Kümmere dich nicht darum«, sagt Joy. »Beeil dich einfach.«
Das klingt zwar unsinnig, aber ich bin bei meiner Tochter, und sie spricht mit mir. Und jeder Schritt bringt mich ihr näher!
Den Reiserntewettbewerb gewinnt das Mondteichdorf. Als Nächstes sollen drei kleine Maisfelder abgeerntet werden. Die Leute vom Mondteichdorf stürmen durch ihr Feld – und fahren wieder einen Sieg ein, obwohl das Gründrachendorf und das Schwarzbrückendorf mehr Körbe voller Mais haben. Und schon geht es weiter. Wir machen Mittagspause. Die Stimmung in der Kantine ist ausgelassen. Ich sehe verschwitzte, schmutzige Gesichter vor mir. Der Raum ist erfüllt von Gelächter und gut gelaunten Anfeuerungsrufen. Wir alle haben Hunger, und es gibt reichlich: Melonensuppe, geschmortes Rindfleisch in roter Sauce, Tofu mit Pökelschinken, gedünstetes Blattgemüse mit Knoblauch und Chili und klein geschnittene
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