Tochter des Windes - Roman
Schatten der Maschine glitt über sie hinweg. Der Helikopter legte sich schräg, drehte sich um eine unsichtbare Achse. Die Erschütterungen nahmen ab, die Maschine gewann an Geschwindigkeit. Es stank entsetzlich nach Treibstoff, aber für mich und alle anderen duftete es paradiesisch nach Rettung. Der Sanitäter untersuchte Hatsues Bein und sah sofort, dass sie furchtbare Schmerzen litt. Die Schienen waren ganz verrutscht. Er gab ihr eine Injektion, bevor er das Bein ruhig stellte. Dann kümmerte er sich um die junge Schwangere, gab auch ihr ein Medikament, das ihrem Zustand angepasst war. Und endlich erhielten wir aus einer Thermosflasche unseren ersten Kaffee seit vier Tagen, und dazu ein frisches Brötchen. Einfach unbeschreiblich gut! Inzwischen saà Isao mit seinen Kopfhörern am Steuer und drehte uns dann und wann das Profil zu, mit einer komischen kleinen Grimasse, als wollte er sagen: »Es gibt zwar Probleme, aber wir kriegen das schon hin!«
Der Motor dröhnte kräftig und zuverlässig. Wir fühlten uns wie auf Engelsflügeln getragen, während die Maschine in einem Wolkenmeer der Küste entgegenflog.
Â
Endlich gab es wieder Strom. Der Computer funktionierte, und ich nahm mir die Zeit, um Mutter einen Brief zu mailen.
Jetzt rege dich bitte nicht auf, und bombardiere mich nicht Tag und Nacht mit SMS. Ich habe dich doch wissen lassen, dass ich wohlauf bin. Okay, ich hatte eine Gehirnerschütterung,
ein blaues Auge und führe jetzt eine Narbe an der Stirn spazieren, die mir  â wie Mia sagt  â ein verwegenes Aussehen gibt. Wie ein Pirat, sagt sie. Ist doch schmeichelhaft, oder? Dazu bin ich radioaktiv verseucht. Aber ich bin hier nicht der Einzige. Ganz Tokio ist vermutlich verseucht. Dreizehn Millionen Leute haben Cäsium, Strontium, Plutonium und wie das Zeug noch heiÃen mag, in den Knochen. Damit müssen wir leben. Es gibt in dieser Zeit so eine unglaubliche, fast surreale Mischung von Tragik und Komik. Die Welt ist ein Theater, wir sind alle nur Schauspieler auf der Bühne des Lebens. Mia und ich wohnen jetzt in meinem Geisterhaus. Mia ist zu mir gezogen. Ihre Wohnung im achtundzwanzigsten Stock hat keinen Balkon mehr  â das Glas ist weg  â und auch keine Scheiben. Drinnen ist alles ein Chaos, dem Wind ausgeliefert. Die Raben waren auch schon da, haben sich auf den Sofakissen verewigt. Klar doch, das Haus steht, wie alle anderen in diesem eleganten Viertel Chiba. Aber will man in die smarten Apartments, muss man über Bretter balancieren. Das Trottoir hat sich aufgetan, ein Graben zieht sich die StraÃe entlang, alle Kanalisationen sind geplatzt, Rohre und Kabel wuchern wild durcheinander. In Chiba gibt es kein Wasser, keinen Strom. Der Lift steckt irgendwo zwischen zwei Stockwerken, die Leute schleppen ihre Einkaufstaschen dreiÃig Etagen hoch. Vor den Häusern wurden in aller Eile Toiletten aufgebaut. Eine ganze Reihe steht da, so lang wie die StraÃe. Zu jeder Tageszeit stehen die Leute dort Schlange, viele mit Nachttöpfen, die ja irgendwo geleert werden müssen. Auch Mias Bruder Isao hat sein Designerapartment verlassen und lebt jetzt bei seinem Freund. Das muss ich auch noch sagen: Er kümmert sich sehr um diesen jungen Mann, ein Opfer der Wohlstandsverwahrlosung, einen gutherzigen und sensiblen Menschen,
der Gefahr lief, hinter Mülltonnen zu landen. Mir kommt das sehr bekannt vor. Dir vielleicht auch. Aus mir ist nicht viel geworden, tut mir leid. Ich habe  â Entschuldigung, wenn ich kein Blatt vor den Mund nehme  â jede Menge ScheiÃe gebaut! Aber Masahiro hatte Glück. Er hat in Isao einen einfühlsamen Mentor gefunden und malt jetzt wunderschöne Bilder, voller extravaganter Farben und Licht. Ich hatte keinen Mentor, als ich dringend einen brauchte. Sorry, das soll kein Vorwurf sein! Vielleicht wird Masahiro mal ein bedeutender Künstler werden. Ich bin nur ein Lebenskünstler, aber vielleicht ist das schon genug. Jeder macht, wozu er sich am besten eignet. Ich denke über mein Buch nach und Mia über die Wohnungen, die sie gebaut hat und die jetzt stark an Wert verlieren werden. Ihr Ego ist ein bisschen tangiert, aber man kann nicht immer alles im Voraus planen. Keiner will mehr so nahe am Meer wohnen! Kein Wunder, dass ich in Mias luxuriösem Glaspalast immer ein schlechtes Gefühl hatte. Ich fühlte mich da oben nie in Sicherheit. Die
Weitere Kostenlose Bücher