Tod auf dem Drahtseil (Roman) (German Edition)
erklären sollte, wusste sie auch noch nicht so recht, aber das würde sie jetzt wohl durchstehen müssen. Ein Blick zur Uhr belehrte die Lady, dass es schon fast zwei Uhr in der früh war. Sie hatte nicht schlafen können, weil die innere Ungeduld und die Sorge um Pat nicht zuließ, dass sie ins Bett ging, bevor die junge Frau heil und gesund wieder da war.
Und so saß sie noch hier in dem kleinen Salon, hatte ein Buch aufgeschlagen im Schoß vor sich liegen und war unfähig zu lesen, weil ihre Gedanken immer wieder abglitten.
Jetzt hörte sie draußen im Flur vor der Tür die Schritte ihres Sohnes, der den Lichtschein unter dem Türspalt bemerkt haben musste und sich bestimmt wunderte. Leises verhaltenes Klopfen ertönte, dann öffnete sich die Tür, und Keith schaute herein.
„Du bist noch auf, Mutter?“ Es waren eine Menge ungesprochener Worte, die in dieser kurzen Frage lagen, und Lady Marjorie wünschte ihren Sohn für einen winzigen Augenblick in die tiefste Hölle. Was musste er ausgerechnet in dieser Nacht hier aufkreuzen? Sie hatte absolut keine Lust jetzt irgendwelche Erklärungen abzugeben, aber die würde er verlangen.
Aber Lady Marjorie war nicht feige, sie war eine stolze selbstbewusste Frau, die zu dem stand, was sie tat, und die ihre Ansichten sehr wohl zu vertreten wusste.
„Ich konnte nicht schlafen“, sagte sie also einfach.
Keith wirkte auf einen Schlag alarmiert. „Warum? Bist du krank? Ist etwas geschehen? Stimmt etwas nicht? Oder geht es Pat nicht gut? Wo ist sie? Es ist ihr doch nichts passiert?“
Eine winzige Pause entstand, bevor die Lady antwortete. „Pat ist nach Dumbarton gefahren“, sagte sie jetzt einfach, und die Stille, die sich nach ihren Worten im Raum ausbreitete, wirkte belastender, als es ein Zentnergewicht hätte sein können.
Schließlich fasste Keith sich, der leichenblass geworden war, räusperte sich dann und schaute seine Mutter ungläubig an. „Das ist nicht dein Ernst, nein?“ Doch er sah im gleichen Moment, dass seine Frage überflüssig war. Das war wie ein Tiefschlag für ihn. „Und du hast sie einfach gehen lassen? Habe ich euch denn immer noch nicht klargemacht, dass das ihr Leben gefährden könnte? Mutter, ich verstehe dich nicht. Habe ich denn wirklich nicht deutlich genug zu verstehen gegeben...“
Lady Marjorie erhob sich aus ihren Sessel, stolz und aufgerichtet stand sie vor ihrem Sohn und schaute ihn mit einem kühlen verweisenden Blick an. „Ich glaube nicht, mein Junge, dass wir darüber noch länger diskutieren müssen. Weder du noch ich wären an ihrer Stelle hier geblieben. Und ich kann sehr gut nachvollziehen, was in Pat vorging. Deshalb habe ich es zugelassen, dass sie in die Stadt fuhr. Ich habe ihr sogar einen Wagen gegeben. Und jetzt komm du mir nicht damit an, du könntest es nicht verstehen. Du hättest nicht anders gehandelt, weder an ihrer noch an meiner Stelle.“
„Mutter, ich bin ein Mann und ein Polizist. Das kannst du nicht einfach vergleichen. Ich weiß mir zu helfen, ich bin dafür ausgebildet.“
„Ja, hältst du denn Patricia für dumm? Erlaube mal, mein Sohn, diese Frau ist intelligent, erfindungsreich und - sehr verzweifelt. Aber sie weiß sich ebenfalls selbst zu helfen, darauf hast du kein alleiniges Vorrecht. In ihrer Verzweiflung wusste sie hier nicht mehr ein noch aus.“
„Und gerade deshalb hättest du sie zurückhalten müssen“, warf Keith seiner Mutter vor, doch dann winkte er resigniert ab. „Vielleicht hast du recht mit dem, was du sagst, vielleicht hätte auch ich nicht anders handeln können. Aber du verstehst doch hoffentlich auch, dass ich mir jetzt eine Menge Sorgen mache.“
„Was glaubst du eigentlich, was ich hier tu?“, fuhr seine Mutter ihn an, die jetzt endgültig genug von seinen Vorhaltungen hatte. „Und nun geh schon, setz dich in den Wagen, und fahre ihr hinterher. Sie ist zum Zirkus, wie du dir sehr wohl denken kannst.“
„Ja, das war mir schon klar“, murrte er. „Hoffentlich komme ich jetzt nicht zu spät.“
„Bring Pat zurück, heil und gesund“, flüsterte Lady Marjorie.
Mit raschen Schritten lief der junge Mann aus dem Haus, und gleich darauf hörte Lady Marjorie den Motor des Wagens aufjaulen, und dann raste er mit quietschenden Reifen los.
Sie starrte noch eine ganze Weile auf den leeren Flur und schickte ein Stoßgebet in den Himmel. Hoffentlich war es wirklich noch nicht zu spät. Hoffentlich war Pat nicht doch etwas passiert.
*
Als Pat wieder
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