Tod auf der Donau
Duschvorhang zur Seite. Ein entscheidender Moment. Endlich! Martin leuchtete tatsächlich einem jungen Mädchen direkt ins Gesicht – eigentlich sollte sie eine Ohnmacht vortäuschen, doch stattdessen grinste sie breit.
»Autsch, schalt das ab, du machst mich ja blind!«, rief sie.
»Bist du o.k.? Kannst du atmen? Ich nehm dich auf meine Schultern und dann los. Ich muss dich evakuieren! Brauchst du Erste Hilfe?«, sprach Martin die eingeübten Sätze.
Er erinnerte sich an einige Fakten, die sie ihm in den letzten sieben Tagen eingetrichtert hatten. Von morgens bis abends lief er die drei Decks auf und ab, er hörte zu, er antwortete, keinen Moment lang konnte er ausruhen. Er übte, blitzschnell die Rettungsweste anzuziehen, die Signalpistole zu bedienen, mit dem Rettungsboot herumzupaddelnund um jede Sekunde zu kämpfen. Sie trichterten ihm die Firmenphilosophie ein: Verlier niemals die Selbstbeherrschung. Höflich bleiben unter allen Umständen. Ein Problem ist eine Herausforderung. Das Leben ist ein Schiff und eine Karriere das Ziel. Die ADC ist unser ABC. Die anderen Anwärter blickten so aufmerksam drein, als ob sie vorhätten, jedes Wort auswendig zu lernen.
Er musste so lange vor einem Spiegel sein »kommerzielles Lächeln« üben, bis ihm das ganze Gesicht wehtat. Zwei Vormittage lang wurde er sogar im Selbstverteidigungstraining auseinander genommen, mit der »Krav Maga«-Kampftechnik sollte er künftig für alle Krisensituationen gewappnet sein. Beim Firmenseminar konnte er sich der Macht der Gruppe kaum entziehen, für Martin war es allerdings noch wesentlich anstrengender, dass ein jeder dieser Abende mit einem Besäufnis endete.
Im Jahre 1991 war bei Hainburg ein Motorboot der österreichischen Zollbehörde mit einem russischen Schiff havariert – drei Tote. Im Jahre 1996 sank in der Nähe des Hochspannungswerks Freudenau der slowakische Schlepper
Dumbier
– acht der neun Besatzungsmitglieder starben. Im Sommer 2004 prallte ein deutsches Ausflugsschiff gegen den Pfeiler der Wiener Reichsbrücke, 19 Personen wurden dabei verletzt. Im Dezember 2005 sank nach einem Feuer in der Nähe der rumänischen Stadt Braile ein Schubschlepper. Alle elf Besatzungsmitglieder ertranken. Am 21. August 2009 brannte ein deutsches Schiff mit einhundertfünfzig Passagieren an Bord vollends nieder, zum Glück starb nur eine Person. Diese und weitere Katastrophen, die entlang der Donau passiert waren, musste er auswendig kennen, wo und wann und vor allem warum sie passiert waren und wie man sie künftig vermeiden könnte. Abschließend war Martin einer strengen Prüfung all dessen unterzogen worden. Bei der theoretischen Prüfung war er erfolgreich gewesen. Nunmehr musste er die praktische abschließen.
»Jetzt übertreib mal nicht! Wo warst du so lange? Mir war schon langweilig …«, lachte das Mädchen.
»Was? Red nicht blöd rum und komm! Wir müssen uns beeilen«, sagte er.
»Also bitte, ich mache das schon zum dritten Mal. Es reicht, das Ergebnis bekanntzugeben und fertig. Sie werben uns bei der Schauspielschule in Amsterdam an. Zahlen recht gut, nur schade, dass der Dollar so gesunken ist …«, antwortete sie und schaltete ihr Funkgerät an: »Er hat mich gefunden. Macht den Lärm aus. Ich bin schon völlig fertig davon, und dieser Gestank bringt mich noch um. Der Neue ist ziemlich geschickt. Ein bisschen gedauert hat es zwar, doch er hat auf jeden Fall Talent.«
»Das ist alles? Muss ich dich nicht tragen? Bist du sicher?«, wollte Martin wissen. Er fühlte, das Ziel war zum Greifen nahe.
»Hey. Du kannst meine Hand nehmen, mich zum Bett führen und mir bisschen Mund-zu-Mund-Beatmung beibringen«, antwortete sie und streckte ihre Hand aus. »Aber hör vor allem auf, mir in die Augen zu leuchten!«
Martin rang nach Luft. Er machte die Taschenlampe aus und betrachtete sie genauer: eine junge Schauspielerin mit auffällig schwarzen Augen, roten Wangen und spitzen Lippen. Die Haare klebten an ihrer Stirn. Sie streckte sich ein wenig in ihrer überaus unbequemen Position. Unter ihrem T-Shirt zeichneten sich volle Brüste ab. Ein bisschen zögerte er, er half ihr auf und küsste sie kurz auf die Wange.
»Du spielst recht gut«, antwortete er. »Du solltest dich lieber im Theater engagieren lassen. Ciao!«
Um zwei Uhr fand im Salon das Abschlussmeeting statt, die feierliche Beendigung des Trainings gewissermaßen. Martin wurde kurz vom Teamleiter vorgestellt und danach gefragt, ob er Herausforderungen liebe.
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