Tod auf der Donau
Ende. Jeder seiner Muskeln war angespannt, bereit loszuschlagen. Er atmete tief und regelmäßig wie ein Schlafender und beobachtete das Kind. Das Gestöhne nahm kein Ende; er begriff schließlich, dass es aus dem Fernseher kam, wo unentwegt Pornos liefen. Langsam wurde es wieder hell. Nach einer weiteren Stunde stand er leise auf und blickte auf den Fluss. Das Frühstück hatten Mona und Dragan relativ gerecht aufgeteilt, Nora bekam etwas Weißwein aus dem Tetrapack in ihr Babyfläschchen.
»Sie schläft dann sofort ein«, lachte Dragan und bot ihm ein Röhrchen und etwas Koks auf einer Kreditkarte an.
»Ich hab grad keine Lust. Vielleicht später.«
»Bei mir ist das Zeug auch wirkungslos, aber Dragan behauptet immer, wenn ich danach eine ganze Flasche Whisky auf Ex austrinken täte, dass dies meine Chancen ums zehnfache erhöhen würde, glücklich und stolz auf mich zu sein.«
Beide lachten los.
»Weißt du was, ich nehm die Kleine lieber mit auf einen Spaziergang«, schlug Martin vor.
»Das wäre super. Aber wir haben keinen Kinderwagen. Du musst sie tragen.«
Mona war wie verwandelt. Ihr Anblick ließ ihn erneut an den Geschmack des schwarzen Deltawassers denken.
»Dein Klassenkamerad ist aber wirklich merkwürdig«, stellte Dragan fest.
Monas Mobiltelefon klingelte, doch sie nahm es nicht mehr wahr. Das Klingeln wollte und wollte nicht aufhören.
»Das Telefon!«, sagte Martin.
»Bitte?«, fragte sie.
Martin hielt es nicht mehr aus und nahm das Handy, um das Gespräch abzuweisen.
»Mona, wenn du nicht sprechen kannst, dann gib mir irgendein Zeichen … Bist du freiwillig hier? Hier in dieser Wohnung? Mit diesem Mann? Oder halten sie dich gewaltsam fest?«
»Was quatscht du da?«, erwiderte sie. Plötzlich meinte sie noch in einem völlig anderen Tonfall: »Ganz nebenbei, damit du es weißt, sie waren falsch.«
»Ich verstehe nicht!«
»Die Banknoten im Koffer, damals auf dem Schiff«, antwortete sie. »Furchtbar, schrecklich, ein richtiger Pfusch.«
»Mona, ich möchte, dass du dich auf eine Frage konzentrierst, die ich dir jetzt stellen werde. Erinnerst du dich an einen bestimmten Passagier, der William Webster hieß?«
»Der Typ, der sich zunächst mit Venera verloben wollte und anschließend mit mir? Na, den kann man nicht so leicht vergessen! Wieviel Uhr ist es? Ich muss mich mal hinlegen. Es ist schon verdammt spät.«
Sie wollte noch irgendetwas sagen, doch es gelang ihr nicht mehr; eine Weile saß sie apathisch herum und kam gar nicht mehr zu sich.
Hundert Sachen blieben unausgesprochen, doch er musste jetzt alles zurücklassen. Er hatte noch nie ein Kind getragen. Es überraschte ihn, wie leicht Nora war.
Die Weihnachtsmärkte breiteten sich in allen Fußgängerzonen aus. Den Stadtplatz dominierte eine fünfeinhalb Meter hohe Tanne, die mit künstlichem Schnee und 300 Christbaumkugeln bestückt war. Der Platz war von 80.000 Glühbirnen und vier Kilometern Lichtgirlanden beleuchtet. Die Stände waren mit 900 Adventskränzen geschmückt. Die Bayern hatten offenbar auch während der Weihnachtstage etwas für Zahlen übrig, die ununterbrochen von der Platzsprecherin wiederholt wurden. Feiertage wie Mathematik, das zählen wir dir zusammen, hier hast du verloren, blitzte es in seinem müden Kopf auf. Zimtduft lag in der Luft, Zitronenrinde, Honigschnitten und Muskatnuss.
Martin ging einen Weg entlang, dessen Pflastersteine an Katzenköpfe erinnerten, überall Häuser mit Satteldächern. Er konzentrierte sich wieder auf den Säugling. Nora war wach geworden und knabberte an ihrer Miniaturhand, die tatsächlich ganz in ihren Mund passte. Oft quiekte sie vor sich hin, einmal rief sie sogar etwas, sie weinte kaum noch.
Zum ersten Mal fiel ihm auf, was für eine Aufmerksamkeit einem einsamen Mann mit Säugling zuteil wird. An den Ständen bekam er Grog, ohne bezahlen zu müssen, ebenso geröstete Mandeln, zwei Lebkuchen und Nusskuchen. In der öffentlichen Toilette half ihm eine Frau dabei, das Baby zu wickeln. Seine Unbeholfenheit fand sie sogar noch niedlich. Noras Beinchen strampelten wie die eines umgedrehten Käfers.
»Es ist etwas ganz Besonderes, dass sie schon lächeln kann. Meistens lernen sie das erst viel später«, sagte die Frau.
»Sie wächst bei Leuten auf, die sehr fröhlich sind«, antwortete Martin.
Er überlegte nicht mehr lange, es stellte sich dieses Gefühl ein, es tun zu müssen. Er wog auch nicht mehr ab, ob es richtig, ehrenvoll oder strafbar wäre, ob man es
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