Tod auf der Koppel
starrte ihn entgeistert an. »Das kann nicht sein. Fatal Lady ist lammfromm.«
»Ich weiß. Ich kann es auch nicht glauben. Aber es ist so. Wahrscheinlich ist er, als es bereits dunkel war, hinausgegangen, um noch einmal nach dem Pferd zu sehen. Dabei hat er sie erschreckt. Er lag ganz dicht am Zaun, sonst hätte ich ihn gar nicht entdeckt. Er muß die ganze Nacht da draußen gelegen haben.«
»O Jim, wie schrecklich! Es tut mir so leid, daß ausgerechnet du ihn gefunden hast. Aber ich kann es einfach nicht glauben — ich meine, daß er auf diese schreckliche Weise gestorben ist. Es ist einfach grauenhaft! Das einzige Wesen, das er auf dieser Welt gemocht hat, soll ihn getötet haben!«
Er war froh, daß sie die Geschichte mit solcher Gelassenheit aufnahm und nicht versuchte, Fatal Lady zu verteidigen. Tatsachen waren eben Tatsachen, und Annabel verschwendete nicht ihre Zeit damit, darüber Vermutungen anzustellen. »Ich mache dir erst einmal einen Tee«, erklärte sie ruhig. »Du kannst ihn sicher brauchen. Wahrscheinlich hast wieder du alles erledigen müssen: den Doktor rufen, Simon Bescheid sagen und so weiter.«
»Ganz richtig. Ich habe auch die Polizei informiert, weil es ein Unfall war. Da müssen die Behörden eingeschaltet werden. Trotzdem bin ich froh, daß ich so früh unterwegs war. Es wäre mir schrecklich gewesen, wenn er noch länger da hätte liegen müssen.«
Annabel, die gerade den Tee aufgoß, blickte kurz hoch. Etwas in Jims Gesicht ließ sie stutzen. »Ist er nicht sofort tot gewesen, Jim?«
»Nicht gleich«, antwortete Jim zögernd. »Er ist noch ein kurzes Stück vom Zaun weggekrochen. Offensichtlich hat sie ihn direkt am Zaun getroffen, und er hat versucht, ihr zu entkommen.«
»Aber das ist ja entsetzlich! Was hat der Arzt gesagt? Hat er lange leiden müssen?«
»Nein. Das ist bei dieser Kopfverletzung ganz ausgeschlossen. Am liebsten würde ich dir die Einzelheiten ersparen. Aber wenn du es schon wissen mußt: Es kann sich nur um Minuten gehandelt haben, in denen er versucht hat, ein paar Meter wegzukriechen. Er hat wahrscheinlich gar nicht mehr gewußt, was er tat. Es war einfach eine instinktive Handlung.«
»Er hat versucht, vor Fatal Lady zu fliehen? Mir will das einfach nicht in den Kopf.«
»Ich weiß. Mir ist es genauso gegangen. Aber es hat keinen Zweck, sich etwas vorzumachen. Er ist nun einmal so gestorben. — Wo ist der Junge?«
»Draußen, bei seinem Sandhaufen. Ihm geht es gut.« Sie blickte durchs Fenster und beobachtete, wie James eifrig etwas zu vergraben schien. »Sieh mal, er deckt etwas mit Sand zu. Es sieht wie ein Buch aus. Nimm es ihm doch bitte weg.«
Ganz verwirrt kam Jim ein paar Minuten später zurück, in der Hand ein schlimm zugerichtetes Buch. »Es ist der letzte Roman deiner Mutter. Ich möchte bloß wissen, wo er den her hat.«
»Von unserem Tisch. Du hast ihn dort liegen lassen, als du keine Lust mehr hattest weiterzulesen«, erklärte sie ihm lächelnd. »Ob er es wirklich vergraben wollte?«
Sie brachen beide in Gelächter aus. Ihn vergraben, das war, wie sie in schweigender Übereinstimmung feststellten, das Beste, was man mit dem Roman tun konnte.
Annabel fing an, das Mittagessen für ihren Sohn zuzubereiten; aber sie war mit den Gedanken nicht bei der Sache. »Hast du nicht gesagt, der arme Kerl sei unmittelbar am Zaun niedergeschlagen worden?« fragte sie plötzlich.
Es wäre ihm lieber gewesen, Annabel wäre nicht wieder auf das Thema zurückgekommen. »Ja. Er muß dagegen gestürzt sein«, gab er mißmutig zur Antwort.
»Woher weißt du das?«
»Weil das Gras dort niedergedrückt war. Man konnte ganz deutlich sehen, wo er gekrochen war.«
Annabel unterbrach ihre Beschäftigung mit James’ Spinat. »Aber das ist doch sehr merkwürdig!«
»Wieso? Es ist doch ganz natürlich, wenn jemand versucht, vor einer Gefahr zu fliehen.«
»Das meine ich gar nicht. Was ich nicht begreife, ist, daß Fatal Lady so dicht am Zaun gestanden haben soll. Weißt du nicht mehr, was Hawkins uns immer wieder erzählt hat? Das einzige, was Fatal Lady nervös mache, sei Draht, weil sie sich als Einjährige einmal darin verfangen habe.«
Jim, der gerade einen Schluck Tee trinken wollte, erstarrte in seiner Bewegung. Er hielt die Tasse fest umklammert und sah seine Frau entgeistert an. »Mein Gott, ja. Ich erinnere mich. Er sagte, sie scheue sogar vor dem Zaun zurück, wenn man sie am Zügel halte. Auf der Koppel machte sie immer einen weiten Bogen um den
Weitere Kostenlose Bücher