Tod einer Strohpuppe: Kriminalroman
eine
Mondsiedlung, dann an der verfallenen Kirche vorbei und schließlich durch die Getreidefelder, die sich, von keiner Hecke unterbrochen
und nur von Strommasten gesäumt, scheinbar endlos ausdehnten.
Sal lenkte den Wagen auf die Straße nach Cambridge und beschleunigte auf achtzig Meilen. Sie hatten es nicht eilig, aber sie
fuhr gern schnell.
»Dann war es also ein tödlicher Unfall?«, fragte sie.
Er wandte sich ihr aufmerksam zu, und sie warf einen Blick auf ihn. Er hatte ein breites, ehrliches Gesicht, auf seinen Wangen
lag immer ein Bartschatten und unter seinen jungenhaften Ponyfransen leuchteten blaue Augen. Wie immer trug er ein Hemd mit
Button-down-Kragen und einen blauen Anzug, dessen Jackett im Moment auf seinem Schoß lag.
»Jake war zweiundzwanzig«, sagte er, »lebte aber im Haus seines Chefs in einem Dorf, in dem ein Strohpuppen-Fest den Höhepunkt
des Jahres bildet. Er lernte Russisch und die junge Frau seines Chefs ist eine Katalogbraut. Er hatte keinen Penny, trug aber
sonntagabend in der Ausstellungshalle teure neue Schuhe. Was hältst
du
davon?«
»Ich denke, wir sollten morgen früh hierher zurückkommen.«
»Und ich denke, dass du recht hast.«
Sie wohnten im obersten Stockwerk des Wohnblocks, und ihre Wohnung bot eine gute Aussicht auf das Niva-Werk und die Osteuropäische
Ebene dahinter, eine grün-braune Fläche, die sich bis zum Horizont erstreckte.
Diesen ganzen letzten Sommer über saß Iwan Gorenski immer zwischen sechs und sieben Uhr abends am Tisch, wenn
die Suppe auf dem Herd stand und das Zimmer mit ihrem Duft erfüllte. Das war die Zeit, die er mit seinem Vater verbrachte.
Sein Vater war ein leitender Ingenieur im Niva-Traktorenwerk, ein sehr fähiger und geachteter Mann. Iwan stellte seinem Vater
gern technische Fragen. Er wollte wissen, wie Geräte und Maschinen funktionierten, wie es kam, dass ein Flugzeug flog, und
warum Schiffe nicht sanken. Sein Vater besaß einen Fallminenbleistift, mit dem er Skizzen auf Papier zeichnete, und Iwan war
überzeugt, dass die ganze Welt letztlich so zu fassen war: an diesem Tisch, mit den Erklärungen seines Vaters und seinen einfachen
Zeichnungen. Der Junge empfand die Welt als einen rationalen Ort, der sich erklären und verbessern ließ. Manchmal sah er seinen
Vater an und wollte einfach so werden wie er.
So ging der heiße Sommer zu Ende. Und dann waren die Fenster eines Morgens vereist.
Montagabend
Sal Moresby hatte noch zahlreiche unerledigte Fälle auf dem Schreibtisch, was angesichts der in Thinbeach verbrachten Stunden
bedeutete, dass sie fast bis Sonnenuntergang hatte arbeiten müssen. Jetzt stand sie auf dem Balkon ihrer Wohnung, in der sie
mit ihrem Freund zusammenlebte. Das Apartment lag im Obergeschoss eines modernen Wohngebäudes mit Ausblick auf den Fluss Cam
und den Midsummer Common, eine große Grünfläche. Es war ein schöner Abend, die Sonne ging gerade unter, und auf dem Fluss
tummelten sich Ausflugsboote und Sportruderer.
Sal hörte ein leises Klirren hinter sich, als ihr Freund sich das nächste Bier aus dem Kühlschrank nahm. Sie blickte sich
um. Es war dunkel im Zimmer, und nur der Computerbildschirm leuchtete. Dort saß er und surfte durchs Internet.
Sie wollte nicht hier sein. Die Wohnung war zu dunkel und der Balkon zu klein. Sie wollte etwas erreichen. Sie wollte mit
Tom Fletcher draußen in den Fens sein.
Fletcher beendete seinen Arbeitstag unmittelbar nach Sal. Er blieb einen Moment lang vor der Parkside Police Station stehen
und atmete in der Abenddämmerung tief durch. Über dem University Arms Hotel flatterte der Union Jack vor dem malvenfarbenen
Himmel, und um die Lampen in der Mitte des Parker’s Piece schwirrten Wolken von Mücken.
Dahinter lag das aus Touristenführern bekannte Cambridge: die Colleges, die Kirchen und die Stakkähne entlang dem »Backs«
genannten Uferstreifen des Cam. Dort befandsich auch seine eigene Wohnung, die auf die Landschaft der Blei- und Schindeldächer hinausblickte. Tom Fletcher drehte sich
um und ging in die entgegengesetzte Richtung.
Jede Stadt hat ihre zwei Seiten.
Er überquerte die East Road, wo die Obdachlosen sich vor dem Wohnheim der methodistischen Kirche sammelten. Er ging die Mill
Road entlang, wo Motten die Leuchtreklamen der Läden und Kneipen umschwirrten und an jeder Straßenecke Jungs in Kapuzenshirts
standen und von Zeit zu Zeit die Köpfe herumwarfen, damit ihre Goldkettchen
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