Tod in den Anden
schliefen, aufwachen und sie zum Schweigen bringen würden. Oder sie würden auf den Zehenspitzen herbeikommen und dem Bohrarbeiter den Mund zuhalten. Und ihn würden sie zu dem verlassenen Bergwerk bringen und in den Schacht werfen, weil er gehört hatte, was er gehört hatte. »Gibt es nicht überall Tote? Töten ist das wenigste. Ist es nicht so stinknormal geworden wie pinkeln oder scheißen? Das ist es nicht, was die Leute fertigmacht. Nicht nur mich, auch viele von denen, die schon weg sind. Es ist das andere.«
»Das andere?« Lituma fror plötzlich.
»Der Geschmack im Mund«, flüsterte der Arbeiter kaum hörbar. »Er geht nicht weg, sooft man ihn auch ausspült. Jetzt in diesem Augenblick spüre ich ihn. Auf meiner Zunge, an meinen Zähnen. Auch im Hals. Sogar im Bauch spür ich ihn. Als hätte ich gerade noch gekaut.«
Lituma fühlte, wie die Zigarettenkippe ihm die Fingerkuppen versengte, und ließ sie fallen. Er trat auf die Funken. Er verstand, was der Mann sagte, und wollte nicht mehr wissen.
»Also das auch noch«, murmelte er. Er keuchte mit offenem Mund.
»Nicht mal, wenn ich schlafe, geht er weg«, erklärte der Arbeiter. »Nur, wenn ich trinke. Deshalb bin ich zum Säufer geworden. Aber das bekommt mir nicht, meine Magengeschwüre brechen auf. Ich scheiße schon wieder Blut.«
Lituma versuchte, eine neue Zigarette aus der Schachtel zu nehmen, aber seine Hände zitterten so stark, daß sie zu Boden fiel. Er suchte sie tastend auf dem feuchten, mit kleinen Steinen und Streichhölzern übersäten Boden.
»Alle haben wir davon genommen, und ich hab auch davon genommen, obwohl ich nicht wollte«, sagte der Arbeiter hastig. »Das macht mich fertig. Die Stücke, die ich runtergeschluckt habe.«
Endlich gelang es Lituma, der Schachtel habhaft zu werden. Er nahm zwei Zigaretten heraus. Er stecktesie in den Mund und mußte eine ganze Weile warten, bis seine Hand das Streichholz halten konnte, um sie anzuzünden. Er reichte eine dem liegenden Mann, ohne etwas zu sagen. Er sah, wie er rauchte, empfing noch einmal einen lästigen Mundvoll Rauch im Gesicht und spürte das Kitzeln in der Nase.
»Obendrein hab ich jetzt auch Angst zu schlafen«, sagte der Bohrarbeiter. »Ich bin feige geworden, was ich nie gewesen bin. Aber kann man sich vielleicht mit dem Schlaf anlegen? Wenn ich nicht trinke, hab ich Alpträume.«
»Siehst du dich, wie du deinen Landsmann ißt? Träumst du davon?«
»Ich komm selten vor in meinen Träumen«, erklärte der Arbeiter bereitwillig. »Nur sie. Wie sie ihnen die Eier abschneiden, sie ihnen abtrennen und ein festliches Gelage mit ihnen veranstalten, als wären sie ein Leckerbissen.« Er mußte würgen, und Lituma merkte, wie er sich zusammenkrümmte. »Wenn ich auch im Traum vorkomme, ist es noch schlimmer. Die beiden kommen und reißen sie mir mit ihren Händen ab. Sie essen sie vor meinen Augen. Ich sauf lieber, als daß ich das träume. Und das Magengeschwür? Sagen Sie mir, ist das vielleicht ein Leben? Verdammte Scheiße.«
Lituma stand plötzlich auf.
»Ich hoffe, du kommst drüber hinweg, Bruderherz«, sagte er. Ihm war schwindlig. Er mußte sich einen Augenblick auf das Bettgestell stützen. »Hoffentlich findestdu eine Arbeit, dort, wo du hingehst. Das wird nicht leicht sein, stell ich mir vor. Ich glaub nicht, daß du das so leicht vergessen wirst. Weißt du was?«
»Was?«
»Ich bereue es, daß ich mich so darauf versteift habe, zu erfahren, was mit denen passiert ist. Besser, ich hätte es nur geahnt. Ich geh jetzt und laß dich schlafen. Auch wenn ich die Nacht im Freien verbringen muß, um Tomasito nicht zu stören. Ich will nicht neben dir schlafen, auch nicht in der Nähe von denen, die da schnarchen. Ich will morgen nicht aufwachen und dein Gesicht sehen, und dann normal mit dir reden. Ich werde ein wenig Luft schöpfen, Herrgottscheißenochmal.«
Er stolperte zur Tür der Baracke und ging hinaus. Ein eisiger Windstoß traf ihn, und trotz seiner Betäubung gewahrte er den prachtvollen Halbmond und die Sterne, die an einem wolkenlosen Himmel standen, und in ihrem Licht, noch immer deutlich, die gezackten Gipfel der Anden.
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