Tod in Innsbruck
ausschaltet.« Heisenberg erhob sich und wankte zum Fenster. Er öffnete es, um die Rauchschwaden abziehen zu lassen. »Wie wird man zu einem Serienmörder? Sind es die Gene? Ist es die Erziehung? Ich weiß es nicht, ehrlich gesagt.« Er fing Kindlers Blick ein. »Vielleicht spielen mehrere Faktoren zusammen: die Strafen in der frühen Kindheit, die übertriebenen Erwartungen der Mutter, der Wunderkindstatus, die falsch verstandene Lektüre von Nietzsche und seiner Übermenschtheorie … vielleicht auch eine zwanghaft verleugnete Sexualität, die unter der Oberfläche gebrodelt und sich ein Ventil gesucht hat?« Heisenberg setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch.
»Was geschieht jetzt mit ihr?«
»Bis zur Gerichtsverhandlung bleibt Mette in Untersuchungshaft. Da sie sich ihrer Verhaftung widersetzt hat und mit einem Skalpell auf meinen Kollegen losgegangen ist, musste ich auf sie schießen, um einen weiteren Mord zu verhindern. Sie liegt momentan in der Krankenabteilung.«
»Wie geht es ihr?«
»Die Kugel hat ihr Kniegelenk zerfetzt. Möglicherweise wird sie nur noch mit Krücken gehen können.«
Kindler nickte. Seine Augen schimmerten feucht.
»Im Übrigen wird ein psychologisches Gutachten über ihre Zurechnungsfähigkeit entscheiden. Und wenn ich mich nicht sehr täusche, wird sie mit großer Wahrscheinlichkeit in der geschlossenen Psychiatrie landen.«
Wie ein Schlafwandler wankte Kindler aus Heisenbergs Büro. Sein Rücken war gekrümmt, als müsste er das Gewicht von vier Leichen und seiner verkrüppelten Tochter auf seinen Schultern tragen.
ZWEIUNDZWANZIG
Oktober 2010
Applaus brandete auf. Der koreanische Tenor verbeugte sich. Er hatte die Lieder von Dowland weder stilsicher noch ausdrucksvoll gesungen, aber zumindest alle Töne getroffen.
Robert schielte in das Programmheft seiner Nachbarin zur Linken.
»Sechs Lieder nach Gedichten von Rilke« kamen als Nächstes. Komponiert 1957 von einem gewissen Petr Eben, von dem Robert noch nie gehört hatte. Er setzte sich gerade hin und hob erwartungsvoll die Brauen.
Eine hochgewachsene Frau nahm mit forschen Schritten die Bühne ein. Ihr flaschengrünes Kleid umspielte die schlanke Gestalt. Breitbeinig stellte sie sich in die Ausbuchtung des Flügels. Sie trug unauffällige Schuhe mit flachem Absatz. Wäre ihr Haar nicht zerzaust gewesen wie immer, Robert hätte sie nicht erkannt.
Der Korrepetitor nickte Vera zu und begann mit dem Vorspiel, das wie ein lauer Wind durch den Saal säuselte.
»Vor lauter Lauschen und Staunen …«
Robert staunte. Veras Stimme klang ganz anders, als er sie in Erinnerung hatte. Die Pantherin in ihrer Kehle schien domestiziert zu sein. Der Schleifpapieranteil war auf ein Minimum beschränkt und der Samt zu flauschiger Fülle aufgebürstet.
Erleichtert atmete er auf. Die pure Erotik, die ihre Stimme im Blue Note ausgestrahlt hatte, erdrückte ihn nicht mehr. Er spürte nur noch die Magie, die Vera in diese slawisch angehauchten Melodien wob. Etwas, das ihn im Innersten berührte und ihm das Gefühl von Wärme vermittelte.
Als Joyce Jamesons Klassenabend zu Ende war, wartete Robert geduldig, bis Vera sich von ihren Kollegen verabschiedet hatte und die Aula der Akademie verließ. Im Foyer trat er auf sie zu.
Er überreichte ihr die gelbe Rose, die in seinen Händen schon etwas welk geworden war.
»Robert! Was für eine Überraschung!« Sie lächelte.
»Gratuliere. Du warst großartig.«
Vera schnupperte an der Blume. »Danke. Wie geht’s dir?«
»Hast du Hunger?«, fragte er.
Sie nickte.
»Was hältst du davon, wenn ich dich zum Italiener einlade?«
Sie sah ihn fragend an, als müsste sie darüber nachdenken.
»Ich hab mich noch nie bei dir bedankt«, fügte er rasch hinzu, ehe sie ihm eine Absage erteilen konnte. »Weil ich lange nicht wusste, wer mir das Leben gerettet hat. Vor Kurzem habe ich Heisenberg getroffen. Jetzt weiß ich Bescheid.«
Ihre Augen lächelten. »Also gut. Auf zum Italiener!«
Wenig später saßen sie unter einem Fischernetz bei Penne all’arrabbiata und einer Flasche Montepulciano d’Abruzzo.
Bis Robert die erste Nudel aufgespießt hatte, war Veras Portion schon zur Hälfte vertilgt.
»Du hast also mit dem griesgrämigen Kripo-Chef gesprochen?«, fragte sie.
»Ich bin ihm in der Klinik begegnet. Er liegt auf der Onkologie. Magenkrebs.«
Klirrend fiel Veras Gabel auf den Tellerrand. »Oh, das tut mir leid!« Sie tupfte mit der Serviette einen Spritzer Sugo von
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