Todesakt: Thriller (German Edition)
sie sich verschätzt, was sein Alter anging, er war viel jünger, höchstens Anfang bis Mitte zwanzig.
Als Lena sich vorbeugte, um seine Nasenlöcher zu untersuchen, konnte sie keine Spuren von weißem Pulver entdecken. Dafür fiel ihr ein großer Bluterguss am Hals auf. Ähnliche Blutergüsse bedeckten beide Arme. Beim Anblick seiner abgeschürften Fingerknöchel und der sauberen Nägel hielt sie kurz inne und dachte nach. Der Junge war in den letzten ein bis zwei Wochen offenbar in eine Schlägerei verwickelt gewesen, denn die Verletzungen heilten bereits ab. Allerdings wies nichts darauf hin, dass er heute Nacht Gelegenheit gehabt hatte, sich zu verteidigen. Der Bauchschuss hatte ihn zu Boden gehen lassen. Und nach der großen Blutlache um ihn herum zu urteilen, hatte das Geschoss eine Arterie durchtrennt. Die beiden Schüsse in die Augen waren erst danach abgegeben worden. Sicher war er noch am Leben, vielleicht sogar bei Bewusstsein gewesen, als der Täter näher kam, allerdings hatte ihn der Blutverlust benommen und wehrlos gemacht.
Der Bauchschuss allein hätte genügt, um den Jungen zu töten. Also lag hinter den Schüssen in die Augen eine andere Absicht. Etwas Wahnwitziges. Ein Mörder, getrieben von rasender Wut.
Plötzlich fiel Lena etwas aus einem Film ein, den sie vor über zehn Jahren gesehen hatte. Die Komantschen glaubten, dass ein Getöteter ohne Augen keinen Zutritt zur Geisterwelt hatte. Ohne Augen sei er dazu verdammt, für immer zwischen den Winden umherzuwandern. Wahrscheinlich stammte die Szene aus Der schwarze Falke von John Ford, aber Lena war nicht sicher. Und dennoch konnte sie sich der Frage nicht erwehren, ob die Seele dieses Jungen nun zwischen den Winden verloren war, als sie sein zerschmettertes Gesicht betrachtete.
Nachdem sie ihn eine Weile gemustert hatte, kehrte sie wieder in die Gegenwart zurück, und sie senkte den Blick. Sie erkannte ihn nicht. Nicht ohne Augen und mit den blutverschmierten Zügen. Aber vermutlich wäre das jedem so ergangen.
Lena rappelte sich auf und suchte den Boden vergeblich nach Geschosshülsen ab. Als sie hochblickte, bemerkte sie, dass Sanchez und Rhodes neben Barrera standen. Sie hatte sie nicht hereinkommen hören, und nun schien Barrera sie aus unerklärlichen Gründen zurückzuhalten. Doch eigentlich spielte es keine Rolle. Beide Detectives wirkten nach zwei Arbeitstagen ohne Schlaf und dem gestrigen Grillabend als krönendem Abschluss erschöpft und hatten glasige Augen.
Lena wandte sich an den stellvertretenden Polizeichef. »Erzählen Sie mir, was los ist.«
Ramsey öffnete eine Rolle Bonbons und legte sich seine Worte sorgfältig zurecht.
»Escabar hat die Leichen gefunden, jedoch die Polizei erst angerufen, nachdem er alle Gäste gewarnt hatte. Die Detectives aus Hollywood waren gegen halb zwei hier. Sie haben Bosco identifiziert und den Fall an die Mordkommission weitergeleitet. Daraufhin erschienen zwei Ihrer Kollegen, identifizierten auch den Jungen und verständigten Ihren Vorgesetzten. Frank hat mich informiert, und ich habe den Polizeichef in seinem Hotel in Philadelphia unterrichtet. Als wir ankamen und sich alle Angaben als richtig erwiesen, habe ich den Chef noch einmal angerufen, und wir haben eine Entscheidung gefällt. Anschließend hat Frank Sie herbeordert.«
Lena fragte sich, ob Ramsey wohl klar war, dass eine gerade Linie noch immer die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten darstellte. Wer genau wen angerufen hatte – oder auch nur warum –, spielte jetzt keine Rolle mehr. Nur dass der zweite Tote nicht Higgins war.
»Wer ist er?«, fragte sie.
»Ein Wichser«, erwiderte Ramsey. »Ein richtiges Arschloch. Der macht uns jetzt als Toter genauso viel Ärger wie zu Lebzeiten. Deshalb haben wir Sie an Ihrem freien Tag gestört. Die Polizei braucht Sie jetzt. Ihre Kollegen, Gamble.«
Ramsey nahm einen Asservatenbeutel mit zwei Brieftaschen aus der Jackentasche und reichte ihn ihr.
»Die wurden da drüben im Müll gefunden«, erklärte er. »Der Mörder hat das Geld mitgenommen, aber die Kreditkarten zurückgelassen. Johnny Bosco hatte bekanntermaßen immer große Mengen Bargeld bei sich. Direkt vor diesen offenen Fenstern ist eine Feuerleiter. Sein Partner, Dante Escabar, geht von einem Raub aus und meint, dass wir diese Sauerei einem Profi zu verdanken haben. Was denken Sie?«
Nach einem Blick auf den Toten drehte Lena sich wieder zum Polizeichef um. Sie senkte die Stimme, da sie Ramsey anmerkte, dass er ihre
Weitere Kostenlose Bücher