Todesbraut
der zweite Mann, der den Mord an Shirin Talabani begangen haben wollte. Aber auch er war nicht der Mörder.
Er war lediglich der zweite Mann, der jemanden decken wollte.
Jemanden, der es nicht verdient hatte, hinter Gittern zu landen.
Jemanden, der schon lange selbst zum Opfer geworden war.
Jemanden, der endlich glücklich werden sollte.
Wencke wusste, wer es war. Sie hatte es in dem Augenblick verstanden, als sie sich im Versunkenen Palast ein letztes Mal umgeschaut hatte. Emil und Axel waren bereits auf der Treppe nach oben, da war Wencke noch einmal zurückgekehrt, hatte sich hinter einer Säule versteckt und Richtung Medusa geblickt.
Die junge Frau war zu ihrem Vater gegangen, hatte ihn in denArm genommen und getröstet. Ihr Ehemann Rafet, dicht hinter ihr stehend, hatte seine Arme um Vater und Tochter gelegt.
Dann hatte Roza ihren Schleier abgenommen.
Wencke würde das Gesicht niemals vergessen. Es war eine einzige Wunde. Doch ihr Ehemann hatte sanft die Wangen geküsst.
So oft hatte Wencke seither ihre Hand am Telefon gehabt. Ein Anruf, und die Wahrheit über den Tod der Shirin Talabani würde ans Licht kommen.
Ein Anruf nur. Das Telefon lag noch immer griffbereit neben ihrem Bett. Aber jetzt war es schon so spät.
Morgen, nahm Wencke sich vor, morgen würde sie die Sache hinter sich bringen.
… im Aufbegehren.
Sie liegt auf dem Bett, es ist dunkel, nicht nur im Zimmer, auch in ihrem Kopf. Die Autos fahren am Kellerfenster vorbei, nicht mehr ganz so viele, es muss nach Mitternacht sein. Erst glaubt sie, diese Dämmerung im Hirn hindert sie daran, Arme und Beine zu bewegen. Doch dann dreht sie den Kopf zur Seite und sieht die Tücher. Rozas Tücher. Diese verdammten Tücher.
Ihre Tochter sitzt auf der Bettkante.
Sie ist schön, trotz der Narben im Gesicht. Für Shirin ist sie immer schön gewesen.
»Mama«, sagt sie. »Du zerstörst mein Leben.«
Shirin dreht den Kopf von links nach rechts, die Bewegung ist zu träge, um sie als Kopfschütteln zu bezeichnen.
Ich will doch nur dein Bestes, denkt sie. Reden kann Shirin nicht, ihr Mund ist trocken, die Zunge lahm.
Doch Roza scheint ihre Gedanken zu lesen. »Ohne dich wäre ich eine andere. Dein Aufbegehren hat alles kaputt gemacht. Du wolltest frei sein – und ich muss es büßen.«
Es ist wie ein Theater im Kopf. Der Vorhang geht auf und Shirin sieht sich und Roza diese Straße entlangfahren. Der andere Wagen bedrängt sie, aber sie will nicht aufgeben, fährt weiter, zeigt sich mutig. Dann zerschellt ihr Wagen am Baum. Alles ist dunkel.
»Damals war ich hübsch …«, flüstert Roza.
Die nächste Szene der Inszenierung in Shirins Schädel. Das Röntgenbild in der Medizinischen Hochschule, das tiefe Seufzen des Plastischen Chirurgen, dann die tapfere Roza vor dem Spiegel, als sie ihr Haupt das erste Mal mit einem Schleier bedeckte.
Sie hatte ihr das Ding herunterreißen wollen. Nein, kein Schleier, nicht meine Tochter!
Roza hat ihre Hand genommen, streichelt sie kurz. »Eine hübsche Frau darf eine freie Frau sein. Eine Hässliche tut gut daran, fromm und traditionell zu leben. Wer gibt mir denn eine Stelle? Und wer heiratet mich? Eine Frau mit zerstörtem Gesicht sollte die Freiheit meiden.«
Roza legt die Hand wieder zur Seite. »Ich will nicht mit dir gehen, Mama. Ich will nicht erleben, wie dieses Kind geboren wird, auch wenn es mein Bruder oder meine Schwester sein wird. Es ist ein Kind der Schande. Du kannst mich mit Geld nicht locken, und die Aussicht auf ein unabhängiges Leben irgendwo in der Welt macht mir Angst.«
Shirin versteht, was jetzt geschieht. Panik steigt in ihr auf. Maßlose Panik. Ihre Arme und Beine sitzen fest in den Schlaufen.
»Ich werde in die Türkei gehen und dort den Mann heiraten, den die Familie für mich ausgesucht hat. Auch wenn er blind ist und weder reich noch gebildet, das nehme ich gern in Kauf. Denn ich werde ihm eine gute Frau sein, werde kochen und das Haus in Ordnung halten, werde meinen Schleier tragen und dem Aufruf des Muezzin folgen. Und ich werde hübsche Kinder bekommen.«
Roza steht auf, sie kann nicht mehr lächeln seit dem Unfall, aber Shirin erkennt an ihren Augen, dass sie es täte, wenn sie in der Lage dazu wäre.
»Ich möchte ein sinnvolles Leben führen, Mama. So eines, wie es für eine Frau mit meinem Gesicht noch möglich ist. Aber das würdest du mir nie gestatten. Für dich ist es unfrei, das Leben, das ich wähle.«
Sie hat recht, denkt Shirin. Ich würde es
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