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Todesformel

Todesformel

Titel: Todesformel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verena Wyss
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schießt denn niemand? An einem kleinen Ort für ein kleines Leben verantwortlich zu sein, hier und jetzt. Für das Leben meines Kindes gebe ich nach. So bin ich, ›la condition humaine‹.
    Jetzt, da ich die Messingfünf mit spitzen Fingern aus dem Stein ziehe, erwarte ich den Einstich der Spritze. Ich fühle kalten Schweiß. Wie ein Deckel lässt sich die Messingplatte hochziehen. Im in den Stein eingelassenen Messingbehältnis liegt eine puderrosa Hülle. Noch knie ich am Boden, sehe Noëls Gesichtlein vor mir, denke ›Sven‹.
    Chantal Platen-Alt zerrt die Box heftig aus meiner Hand. Natürlich gebe ich sie her.
    »Stehen Sie auf!« Ich komme hoch, das rechte Knie schmerzt. Ich blicke direkt auf die Spritze. Die Box steckt sie in ihre Beuteltasche. Sie dirigiert mich zur Steinbank, wir setzen uns nebeneinander. Mit der rechten Hand hält sie die Spritze irgendwo hinter meinem Rücken, mit der linken bedient sie jetzt das Handy, das auf ihrem Knie liegt. Sie hält es ans Ohr, ruft: »Hallo! Hallo!« – da ist nichts. Nervös und ungeschickt drückt sie auf den Tasten herum, lässt es schließlich bleiben. »Wir müssen warten.«
    Von hier aus sehen wir sehr gut zur Mühle hinunter, zum Weg, zum unteren Waldrand. Wir sähen, wenn jemand sich bewegte. Fällt ihr denn nicht auf, dass nichts sich bewegt? Ich muss sie ablenken.
    »Sie haben mich geblufft mit der CD-ROM. Sie konnten nicht wissen, dass ich wusste, wo sie war. Ich bin darauf hereingefallen. Es ist klug, mit einem Kind zu erpressen, jede Mutter gerät in Panik. Sie haben schon Ihre Schwester mit Noël erpresst. Woher wissen Sie, dass er ihr Enkel ist?«
    Sie schaut mich nicht an. Ich denke, sie befürchtet, nicht zustechen zu können, falls sie mir ins Gesicht sähe.
    »Meret versuchte, die Expansion unseres Konzerns zu verhindern. Sie war zu reich, zu mächtig und zu stur. Sie ließ nicht mit sich reden. Doch ich entdeckte ihre Schwachstelle, sie hatte einen Enkel. Ich sah seine Ähnlichkeit sofort. Wie sie ihn berührte, anlächelte, sie, die Frau ohne Lächeln. Jetzt hatten wir sie.
    Es war Intuition, Eingebung, mein Mann hat mich bewundert. Ich sah, wie Bull und Bear sich auf dieses Meerschweinchen stürzten. Da lag der Junge am Boden, die Hunde hatten ihn umgeworfen, sein Knie war aufgeschürft. Dann sind ja Sie gekommen. Als ich die Hunde ins Haus brachte, holte ich ein sauberes Taschentuch, mit dem ich sein Knie abtupfte. Im Labor der Firma wurde das Blut mit den Gendaten von Charlotte Platen verglichen. Die Verwandtschaft stand fest.
    Jetzt war auch klar, warum Sie als unbekannte Anwältin hier auftauchten, wir hatten Verwandte. Meret hatte uns über alle die Jahre hereingelegt. Sie war viel härter, als wir je gedacht hätten, und viel klüger, denn wir hatten nichts gemerkt. Sie war so durchtrieben, ein Kind verschwinden zu lassen und es gleichzeitig so nah aufwachsen zu lassen, sozusagen unter ihren Augen. Also hatte sie auch die Raffinesse zur Verfälschung eines Codes. Dann hatten wir uns möglicherweise in ihrem Fachverstand etwas getäuscht. Überlegten wir genau, könnte sie alle die Jahre die Verschrobene nur gespielt haben.«
    Das Handy klingelt, endlich, sie reißt es ans Ohr, die andere Hand mit der Spritze noch immer hinter mir. Da stimmt etwas nicht, ihre Wangen werden straff, die Augenbrauen fahren nach oben, die Augen werden schmal, ein knappes plötzlich leises »Ja«, noch eines, jetzt ein »Nein.« Sie steht unter Druck. Schon steckt sie das Handy zurück, packt erneut meine Schulter, sagt drohend:
    »Jetzt müssen wir mit Polizei rechnen. Sie werden bei der Übergabe nicht mehr dabei sein. Wir gehen hinunter zum Haus.«
    Ich muss rasch gehen, fast stößt sie mich. Wo bleiben Claas, Sven, Alja, merken sie nicht, was geschieht? Schon gehen wir über das Sonnendeck, schon sind wir beim Glashaus. Ich denke, drinnen wird man mich nicht gleich liegen sehen.
    Ich fahre zusammen, die Hand krallt sich in meine Schulter, um uns ist ein erschreckender Lärm, ein Gebrülle, Gebelle und Geschrei, das Chaos eines Einsatzkommandos: »Hier«, »Jetzt«, »Vorwärts«, »Halt, Polizei«, »Stehen bleiben«, ein Kesseln, Schlagen, Dröhnen. Sie stößt mich die Stufen hinunter, ich denke, das ist ein Polizeieinsatz.
    Wir stehen im Dämmerdunkeln. Sie zerrt an meinem Arm und dreht mich, jetzt stehe ich zwischen ihr und draußen – das Verhaltensmuster der Fernsehkrimis, sie braucht mich als lebenden Schutzschild, mit Betonung auf lebend. Ich

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