Todesläufer: Thriller (German Edition)
nicht aufbringen konnten. Die Reichen waren noch reicher geworden, und die Armen noch ärmer. Keiner von denen, die an diesem Abend Coopers Wiederwahl feierten, huldigte ihm als einem Mann, den die Vorsehung geschickt hatte. Keiner hatte diesmal bei der Abgabe seiner Stimme angenommen, er werde imstande sein, ihren Alltag in irgendeiner Weise zu verändern … und auch nicht ihre Zukunft.
Sie sahen in Cooper den Mann, der dem Land eine noch größere Katastrophe erspart hatte als die, die seinerzeit vom Wirbelsturm Katrina oder durch die Finanzkrise von 2008 ausgelöst worden waren. Er war ein Schutzschild, ein Fels in der Brandung, ein Deich gegen das Unglück, der trotz zahlreicher Risse bis zum Schluss gehalten hatte.
Zwar hatte er den Menschen die Unwahrheit gesagt, doch was machte das schon! In dem Punkt unterschied er sich nicht von anderen Politikern. Aber immerhin hatte er den Mut aufgebracht, es öffentlich einzugestehen. Er hatte seinem Volk von gleich zu gleich ins Auge gesehen.
Grace kam als Erste am Zaun von Tiles for America an, der mit unzähligen Kacheln verziert war, auf denen schlichte Zeichnungen die Tapferkeit der Retter priesen und die Erinnerung an die Opfer wachhielten. Dazu genügten einfache Worte wie Ehre, Stolz, Liebe … Scharen von Menschen strömten in Gruppen aus den Bars im Village und jubelten Arm in Arm vor Erleichterung. Hier und da zeugten Geschäfte mit Spanplatten anstelle der zerscherbten Schaufenster und Krater in der Fahrbahn, die man provisorisch mit schweren Metallplatten abgedeckt hatte, noch von den Ereignissen, die so lange noch nicht zurücklagen, die sich aber jeder möglichst rasch zu vergessen bemühte.
Allmählich schlossen sich die Wunden, doch die Narben würden im ganzen Land noch lange zu sehen sein.
Hoffentlich habe ich mich nicht geirrt …
Aber nein. Es konnte nur heute sein. Für welche andere Gelegenheit als diesen Wahlabend hätte sich ihr Vater entscheiden sollen?
Sie zerknüllte die rosa Haftnotiz und schob sie in ihre Tasche.
Komm zurück, Kleines
Treffpunkt Tiles
Während sie auf ihn wartete, hatte sie Kelly Cooper angerufen, um ihre Glückwünsche auszusprechen. Bei dieser Gelegenheit hatte die älteste Tochter des Präsidenten versprochen, sie zur feierlichen Amtseinführung im Januar einzuladen.
»Weißt du, das sind jetzt noch mal vier Jahre mit Abendgesellschaften und Cocktailpartys. Wie soll man da Diät halten?«
»Da habe ich eine gute Nachricht für dich und deine Waage: Ein drittes Mal darf dein Dad nicht Präsident werden!«
Sie hatten gemeinsam gelacht, inmitten des lautstarken Spektakels. In Washington, New York und anderswo würde es eine lange Nacht werden. Alle öffentlichen Großleinwände zeigten Stanley Cooper, wie er auf einen Stock gestützt ging – am Stock, aber aufrecht. Der treue Salz hielt sich an seiner Seite. Triumphierend und zugleich bescheiden.
»An diesem Abend sollte jeder daran denken, dass Amerika immer noch Trauer trägt. Wir dürfen keinen von denen vergessen, die mit ihrem Leben dafür bezahlt haben, dass sie Bürger unseres Landes waren …«
Seine Ansprache hallte durch die Straßen, ertönte aus allen Radio- und Fernsehlautsprechern genau wie zwei Monate zuvor die von ihm angeordnete Ausgangssperre. Der Ton war ebenso feierlich wie damals, und ebenso ernst.
»Tut mir leid, Kleines, ehrlich. Aber ich steck da wieder in so einer Sache …«
Er hatte sich verspätet, wieder einmal, aber jetzt war er da. Er hatte sich sogar in Schale geworfen. Sah gar nicht mal schlecht aus, ihr Vater, mit seinem grauen Anzug und dem weißen Hemd mit offenem Kragen. Aus Autofenstern pfiffen ihnen vorüberfahrende Studenten spöttisch zu. Sicher hielten sie sie für ein Paar mit großem Altersunterschied.
»Es ist nicht schlimm, Daddy.«
»Nein, da hast du recht, es ist nicht schlimm …«
»Und wie sieht das Vergnügungsprogramm für heute Abend aus? Pizza vor dem Fernseher?«
»Nein, ich hatte an ein Restaurant am Hafen gedacht. Scampispießchen und ein einfacher Wein aus dem Piemont.«
»Mann, du ziehst ja alle Register! Danke, Mister Cooper.«
Aus einem grauen Chevrolet, dessen Fenster heruntergelassen waren, rief ihnen eine Stimme zu: »Hallo, darf ich das Liebespaar einladen?«
»Jetzt reicht es aber …!«
Erst als Grace den Kopf wandte und Liz erkannte, bemerkte sie ihren Irrtum. Sie entschuldigte sich mit einem verlegenen Lächeln, das die hübsche Blondine am Steuer erwiderte.
Ja, Liz McGeary war
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