Todesmelodie
Entscheidung war fast so schlimm wie die Aussicht, Paul mehrere Monate nicht zu sehen. »Nichts«, flüsterte sie.
»Ann!«
Sie blickte auf und fuhr fort: »Dafür kann ich dir keine Lösung bieten. Aber ich hab’ all deine anderen Einwände ausgeräumt und es wird klappen, Paul. Hilfst du mir?«
Unten im Tal läutete die Schulglocke, und Paul wandte sich ab, um die Schüler zu beobachten, die aus dem Gebäude strömten. Er überlegte, und sie drängte ihn nicht zu einer Antwort, weil sie seine Entscheidung schon kannte.
Kurz nach seiner Entlassung aus der Navy hatte er die Angewohnheit gehabt, wild zu fluchen, aber er hatte sofort damit aufgehört als sie ihn darum gebeten hatte. Diesmal verlangte sie mehr von ihm – aber wenn man jemanden wirklich liebte, war alles andere bedeutungslos, er würde ihr helfen, dessen war sie sich ganz sicher.
Doch bevor er antworten konnte, entdeckten Sharon und Chad sie oben auf dem Hügel; sie winkten, und Ann erwiderte ihren Gruß. Während sie die beiden dabei beobachtete, wie sie den Hügel heraufkamen, fühlte Ann Ärger darüber in sich aufsteigen, daß Sharon trotz ihrer Intelligenz so unsensibel sein konnte, wenn es darum ging, ihre beste Freundin zu verstehen.
Und doch gab es auch vieles, was sie an Sharon bewundernswert fand – sie waren nicht umsonst Freundinnen geworden.
Kennengelernt hatten sie sich in ihrem ersten Jahr in der High-School, und schon in dieser Zeit hatte Sharon außergewöhnliches musikalisches Talent bewiesen. Ann hatte sie spielen hören, noch bevor sie ihr Gesicht sah.
In der morgendlichen Kunststunde hatte sie direkt an einer Wand gesessen, hinter der sich der Musikraum befand. Jeden Morgen konnte sie durch diese Wand hindurch Stücke der bekanntesten Komponisten hören, die mit einer sie beeindruckenden Leidenschaft und eben soviel Einfühlungsvermögen gespielt wurden. Es fiel Ann schwer zuzugeben, daß sie Sharon grenzenlos bewunderte. Sie war es, die auf Sharon zuging, weil sie glaubte, daß eine so außergewöhnliche Musikerin auch ein ganz besonderer Mensch sein mußte.
Später jedoch, nach Jerrys Tod, fragte sie sich, ob die Freundin nicht einfach eine perfekte Technikerin war, die eine Sonate so fehlerlos spielen konnte, wie eine Sekretärin einen fehlerlosen Brief schrieb.
Sharon besaß noch andere Qualitäten, die Ann anfangs angezogen hatten: Sie war sanft, alle mochten sie, und Ann, die bis zur neunten Klasse nicht viele Freunde gehabt hatte, fühlte gleichermaßen Neid und Zuneigung, wenn sie in der Mittagspause beobachtete, mit welcher Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit sich Sharon in der Menge der andern Schüler bewegte. Ann wußte, daß sie niemals so beliebt sein würde, fühlte sich aber andererseits von Sharons freundlicher Art sehr angezogen.
Aber es waren ihre Gemeinsamkeiten, die sie zusammenbrachten. Sharon machte den Eindruck, als ob sie andern gegenüber immer großzügig und offen sei – doch das waren momentane Anwandlungen, die Tiefen ihrer Seele blieben verborgen. Sie hielt immer einen Teil ihres Selbst zurück, den sie niemandem zeigte.
Ann erkannte und verstand das, denn auch sie offenbarte sich andern nie ganz. Keine von ihnen beiden sprach darüber, doch dieses Verständnis füreinander schweißte sie zusammen und machte sie zu Partnerinnen.
Doch es hatte Ann schockiert, daß Sharon ihren kleinen Bruder wie einen Trottel behandelt hatte. Ständig hatte sie mit ihm geflirtet sogar als Jerry erst in der achten Klasse gewesen war und Mädchen ihn noch nicht im geringsten interessiert hatten. Damals hatte Sharon ihm mit ihrem süßesten Lächeln Komplimente über eine seiner Zeichnungen gemacht, obwohl Ann gespürt hatte, daß die Freundin insgeheim der Meinung war, Jerry solle lieber die Hauswand tünchen.
Aber Ann hatte diesen Flirt erlaubt, ohne zu begreifen, daß Jerrys Zuneigung später ganz automatisch dem einzigen Mädchen zuströmen würde, das ihn immer in allem ermutigt hatte. Sogar als er später öfter mit Sharon ausgegangen war, hatte Ann die Tiefe seines Gefühls unterschätzt. Erst in den Monaten nach der ersten Verabredung hatte sie allmählich erraten, was dahintersteckte, wenn ihr Bruder an manchen Tagen schlecht gelaunt herumlief, weil Sharon seine Anrufe nicht erwiderte.
Ganz begriffen hatte Ann es erst an einem Abend im vergangenen August, als sie Jerry zusammengekrümmt auf seinem Bett gefunden hatte, den Lauf einer Waffe in seinem Mund und Flecken von Schädelknochen und
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