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Todesnacht: Island-Thriller (German Edition)

Todesnacht: Island-Thriller (German Edition)

Titel: Todesnacht: Island-Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ragnar Jónasson
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nicht, gequält von Gewissensbissen.
    Die erste Mail hatte er längst aus seinem Postfach gelöscht. Hatte sie nicht beantwortet und versucht, sie zu ignorieren. An der Mailadresse konnte man den Absender nicht erkennen, eine ausländische Freemail-Adresse, nur eingerichtet, um Hlynur einzuschüchtern.
    Er hätte natürlich versuchen können, die Adresse zurückverfolgen zu lassen, aber das wollte er nicht. Hlynur wusste nämlich genau, oder glaubte es zumindest, warum er die Mail erhalten hatte, und wollte nicht, dass seine Kollegen davon erfuhren. Außerdem hoffte er, dass es dabei bleiben würde. Eine einzelne Mail, um ihn ein bisschen wachzurütteln.
    Doch das war nicht der Fall. Die erste Mail war am 10 . Mai des letzten Jahres gekommen, mittags an einem Sonntag. Die nächste Mail kam ungefähr zwei Monate später. Dieselbe Mailadresse, keine Unterschrift. Derselbe Text.
    Diesmal löschte Hlynur die Mail nicht, sondern klickte sie regelmäßig an, sowohl auf der Arbeit als auch zu Hause, als Mahnung an die schrecklichen Dinge, die er gemacht hatte.
    Hlynur hasste sich wegen seiner damaligen Verfehlungen. Er hatte alles versucht, um sie wiedergutzumachen, unter anderem einem alten Schulkameraden, einem damaligen Opfer, Informationen über eine Polizeiermittlung zugespielt. Dabei hatte er immer geahnt, dass es eines Tages zu einer wirklichen Abrechnung kommen würde – und nun schien sich seine Ahnung bestätigt zu haben. Es trafen weitere E-Mails ein, immer mit demselben Text. Hlynur bewahrte sie alle auf und las sie öfter, als ihm guttat, voller Selbstverachtung.
    Noch hatte er keine Mail beantwortet. Er konnte nichts sagen, hatte keine Entschuldigung. Er fühlte sich wie ein Angeklagter bei einem Prozess, der einen Verteidiger abgelehnt und die Aussage verweigert hatte – nur auf das Urteil wartete.
    Hlynur erinnerte sich gut an den Jungen. Sie waren schon mit sechs Jahren in derselben Klasse gewesen. Gauti hieß er, war untersetzt, trug eine dicke Brille und sagte nicht viel, war ein bisschen schüchtern. Hlynur hatte schon am ersten Tag angefangen, ihn fertigzumachen, der arme Junge erlebte nicht einen einzigen guten Schultag. Hlynur hatte noch weitere Klassenkameraden drangsaliert, aber Gauti war sein besonderer Liebling. Er verteidigte sich nie und zog sich mehr und mehr in seine Schale zurück, je schlimmer die Übergriffe wurden. In den ersten Jahren waren sie ausschließlich psychischer Art gewesen: Witze auf Gautis Kosten, im Unterricht ebenso wie in den Pausen, Hänseleien, die oberflächlich betrachtet so unschuldig wirkten, dass die Lehrer sie einfach ignorierten, aber im Grunde einen gut durchdachten Psychokrieg darstellten. Hlynur war es immer leichtgefallen, Menschen zu zermürben, war auch besonders geschickt darin, Angeklagte bei Verhören zu einem Geständnis zu bewegen.
    Im Lauf der Schulzeit wurde das Mobbing gegenüber Gauti und anderen Klassenkameraden härter und brutaler, ab und zu setzte es auch Schläge. Hlynur war stark für sein Alter, was er bis zum Äußersten ausnutzte. Gauti musste nach wie vor am meisten darunter leiden. Der Schwimmunterricht eignete sich besonders gut. Wenn der Lehrer nicht hinsah, tauchte Hlynur Gauti unter Wasser, im Verlauf des Schuljahres immer länger und länger, und flüsterte ihm dann meistens zu, wenn er ihn losließ:
Als Nächstes zeige ich dir, wie man stirbt.
    Hlynur hatte nie verstanden, warum Gauti nicht aufgegeben hatte, warum er nicht einfach zu Hause geblieben war. Es war, als hätte man ihm eingeimpft, sich nicht zu drücken, nicht zu schwänzen. Manchmal war er allerdings krank, ungewöhnlich oft vielleicht.
    Heute fiel es Hlynur schwer, an diese Jahre zurückzudenken. Als Erwachsener hatte ihn das schlechte Gewissen immer begleitet. Er gelobte Besserung, bereute zutiefst, doch manchmal überkamen ihn die Erinnerungen an die Grundschule wie tausend stechende Nadeln. Wie quälend mussten die Erinnerungen derjenigen sein, die er gehänselt, geschlagen und gequält hatte – tagein, tagaus?
    Hlynur kannte den Grund für diese schrecklichen E-Mails. Er wusste, dass sie auf Gautis Mobbing beruhten, wusste genau, für welche Sünden er nun büßen musste. Es gab keinen Zweifel, der Inhalt der Mails war nämlich immer gleich. Nur ein Satz.
    Als Nächstes zeige ich dir, wie man stirbt.

5 . Kapitel
    Kristín stand am Abschlag  18 auf dem Golfplatz von Akureyri. Sie war schon früh gekommen, alleine, doch nun füllte sich der Platz allmählich

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