1711 - Der Mond-Mönch
Das alte Kloster lag einsam. Versteckt in den Bergen des Uralgebirges. Es hatte die alten rauen Zeiten einigermaßen überstanden, aber auch die neue Zeit hatte noch keine großen Veränderungen gebracht. Es waren keine Mittel vorhanden gewesen, um die alten Mauern zu reparieren. Was eingestürzt war, wurde so gelassen, und ebenso hatte sich niemand um die Löcher im Mauerwerk gekümmert.
Die wenigen Mönche hatten sich anfangs in einen noch unbeschädigten Teil des Klosters zurückgezogen und sich so gut eingerichtet wie eben möglich. Zudem nicht weit von der kleinen Kapelle entfernt, in die sie gingen, um zu beten.
Nun war der alte Abt allein zurückgeblieben. Auch die letzten Getreuen waren gegangen, und der Abt hatte ebenfalls vor, das Kloster zu verlassen. Doch erst nachdem er seine letzte Pflicht erfüllt hatte. Die brannte ihm auf der Seele.
Wieder einmal war es Nacht geworden. Der Abt hatte darüber nachgedacht, ob er sich in die Kapelle zurückziehen sollte, doch den Gedanken hatte er verworfen. Er wollte in seiner Zelle bleiben. Das Fenster war zwar nicht besonders groß, aber der Blick aus ihm war wunderbar. Bei Tag fiel er in das weite Tal und streifte die kantigen Berge im Hintergrund.
Jetzt war der Tag vorbei. Die Nacht hatte gewonnen, und trotzdem war es nicht stockfinster. Dafür sorgte ein besonders heller Vollmond am Himmel. Er war umgeben von einer Anzahl von Sternen und bot dem Betrachter ein fantastisches Bild, das für den Abt aber nichts Besonderes, sondern Gewohnheit war. In dieser Nacht allerdings schaute er öfter in das Tal, weil er herausfinden wollte, ob sein Besuch es wenigstens in dieser Nacht schaffte, endlich bei ihm einzutreffen.
Danach sah es nicht aus. Durch den dicken Schnee wurde die Ebene von einem fahlen Licht ausgeleuchtet, das die Winternacht fast zum Tage machte.
Der Abt zog sich wieder zurück und ließ sich auf den harten Stuhl fallen.
In seinem Gesicht bewegte sich nichts. Und wäre dies der Fall gewesen, man hätte es kaum bemerkt, weil der dichte dunkle Bart viel verdeckte.
Vor ihm stand der alte Tisch. Die Platte lag ein wenig schief, aber das störte ihn nicht. Es war schon immer so gewesen, und er sah keinen Grund, dies zu ändern.
Auf dem Tisch stand die Karaffe mit dem kalten Wasser. Auch ein dickwandiges Glas stand daneben. Ab und zu füllte der Mönch es nach und trank einen Schluck. An Wasser und an karge Verpflegung hatte er sich gewöhnt. Seine Brüder hatten ihm genügend davon zurückgelassen, bevor sie das Kloster verließen.
Das Brot lag in Scheiben geschnitten auf dem Teller. Der Abt nahm eine Scheibe in die Hände, brach sie und schob sich ein Stück in den Mund. Dazu trank er Wasser, bevor er langsam kaute. Sein Bart bewegte sich dabei mit, und er dachte daran, dass es womöglich die letzte Mahlzeit war, die er zu sich nahm.
Der Tod war gewiss.
Und er war nah.
Das spürte er. Das konnte auch nicht anders sein, denn das Schicksal hatte sein Netz geflochten. Kein Mensch konnte es schaffen, es zu zerreißen.
Wer ihn ansah und es nicht besser wusste, der musste ihn für einen sehr alten Mann halten. Doch das war nicht der Fall. Es lag am dichten Bart, der sein halbes Gesicht bedeckte. Nur Stirn, Nase und die Augen lagen frei, der Mund war innerhalb des Bartgestrüpps nur zu ahnen.
Er setzte immer noch darauf, dass die Hilfe kommen würde. Ob sie allerdings rechtzeitig eintraf, war fraglich. Er musste sein Geheimnis und sein Wissen unbedingt weitergeben. Zu lange schon hatte er es für sich behalten. Er verglich es mit einer Zeitbombe, die eine wahnsinnige Sprengkraft hatte und viel verändern und auch vernichten konnte.
Er trank das Glas leer und reckte sich, um noch mal durch das Fenster zu schauen. Der Mond stand hoch am Himmel, die Sterne blitzten wie frisch geputzt, der Schnee lag da wie eine dicke Watteschicht und die nicht sehr fernen Berge bildeten im Hintergrund eine grandiose Silhouette. Es war seine Welt, eine Einsamkeit, in der er sich nicht einsam fühlte, weil er sich damit abgefunden hatte.
Ein langer Seufzer drang aus seinem Mund. Der Abt überlegte, ob er ein paar Kapitel in dem Buch lesen sollte, das noch auf dem Tisch lag. Es ging da um die Geschichte Russlands kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Doch das ließ er bleiben. Er hätte sich in dieser Nacht nicht auf den Text konzentrieren können, wie es das Buch verdient hatte.
Früher hatte auch in der Nacht die kleine Glocke auf dem Kapellentürmchen geläutet. Das hatte
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