Todesqual
auf die Stirn und bezeichnete das Feuerwerk als Zauber-Schweißgerät.
Sie waren eine glückliche kleine Familie, in der Geld keine Rolle spielte, zumindest nicht bis zur Wirtschaftskrise in den frühen Neunzigern, als Hochhäuser offenbar aus der Mode kamen. Ihr Vater begann, im Schichtdienst zu arbeiten, und hangelte sich von Aushilfsstelle zu Aushilfsstelle. Aber sie hatten noch immer ihr Auskommen. Lena, damals sechzehn, passte fast jeden Abend auf ihren kleinen Bruder auf, obwohl der kaum etwas anderes tat, als Musik zu hören und Gitarre zu spielen. Der Alltag verlief reibungslos, bis es eines Nachts an der Tür läutete und alles schwarz wurde.
Zwei Männer überbrachten die Nachricht. Zwei hässliche Männer mit weißem Haar und Schnapsnasen. Sie trugen Windjacken mit einem Firmenlogo, das Lena noch nie gesehen hatte, und rochen wie zerbrochene Whiskeyflaschen.
Ihr Vater habe einen Unfall gehabt, sagten sie ihr. Einen schweren Unfall, und es sehe gar nicht gut aus.
Als sie im Krankenhaus ankamen, war es schon vorbei. Lena war klug genug, um zu wissen, dass die beiden Männer sie angelogen hatten. Ihr Vater hatte Nachtschicht in einer Fabrik gearbeitet, die Rohre herstellte. Er war mit dem Arm ins Fließband geraten und verblutet, bevor ein Kollege ihn fand und das Band abschaltete. Ein dritter Mann, ein Anwalt, der sie im Krankenhaus erwartete, behauptete, der Unfall sei Folge von so genanntem menschlichen Versagen gewesen. In den kommenden Tagen erfuhr Lena, dass es viele ähnliche Unfälle gegeben hatte. Die Firma war bereits öfter wegen zahlreicher Verstöße gegen die Sicherheitsbestimmungen abgemahnt worden, hatte jedoch stets menschliches Versagen vorgeschützt und sich geweigert, Schadensersatz zu leisten. Da ihr Vater nur Aushilfskraft gewesen war, hatte er ohnehin kein Anrecht auf irgendwelche Zahlungen. Erschwerend kam hinzu, dass Lena und David noch minderjährig waren. Als
Mündel des Staates würden sie vom Jugendamt abgeholt und in ein Heim eingewiesen werden, bis sie entweder adoptiert wurden oder das achtzehnte Lebensjahr vollendeten.
Lena lehnte sich zurück und erinnerte sich an das Foto, das Nikki Brant vor einem Waisenhaus zeigte. Im nächsten Moment schob sie den Gedanken beiseite und schaute durch die Windschutzscheibe auf die verfallene Kapelle auf dem Hügel. Der Turm war eingesackt, und ein Junkie starrte sie durch ein Fenster des Gebäudes an. Sein eingefallenes Gesicht und sein stumpfer Blick wiesen darauf hin, dass er von aller Welt verlassen und nicht mehr weit vom goldenen Schuss entfernt war.
Lena und David Gamble waren ein Team gewesen. Sie hatten per Handschlag einen Pakt geschlossen und sich aus dem Staub gemacht, bevor das Jugendamt Gelegenheit hatte, ihr Leben zu ruinieren.
Erst waren sie nach Süden, dann nach Westen gefahren und hatten die Freeways gemieden, bis die Stadt hinter ihnen lag. Alles, was sie besaßen, stapelte sich im Kofferraum des Chevy Suburban, der ihrem Vater gehört hatte. Zwei Tage später erreichten sie L. A. Nach einer Woche hatten sie beide Arbeit gefunden. Sechs Monate genügten, um genug Geld für eine kleine möblierte Wohnung zu sparen, sodass sie endlich nicht mehr im Auto hausen mussten.
Rückblickend betrachtet, klang das trauriger, als es in Wirklichkeit gewesen war.
Aus irgendeinem merkwürdigen Grund musste Lena meistens schmunzeln, wenn sie an das halbe Jahr im Auto dachte, denn sie war damals stolz auf ihre kleine Welt gewesen. David war überzeugt gewesen, dass sie nur durchgehalten hatten, weil ihnen eben nichts anderes übriggeblieben war. Wenn es ein Sicherheitsnetz gegeben hätte, jemanden, den sie um Geld hätten bitten können, sie wären sicher der Versuchung erlegen, ihre Persönlichkeit zu verkaufen. Das Erfolgsrezept war,
sich aufeinander zu verlassen und sich nicht damit zu zermürben, was hätte sein können.
Lena trank noch einen Schluck Kaffee. Sie war froh, dass der Junkie nicht mehr am Fenster stand und sie anstarrte.
Sie wusste noch gut, wie ihr Bruder als Musiker und Autor von Liedern berühmt geworden war. Die freudige Erkenntnis und der Stolz, als ihr klargeworden war, dass er tatsächlich begabt war und es noch weit bringen würde. Mit achtzehn spielte David als Studiomusiker Gitarre bei den Aufnahmen bekannter Stars. Mit achtzehn hatte er Tim Holt kennengelernt und eine Band gegründet. Zeitungen und Zeitschriften druckten Artikel über ihn, und er war monatelang auf Tournee, um das Publikum für sich
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