Todesregen
wärmen.
Die Bücherregale im Arbeitszimmer waren mit der Lyrik und Prosa von Mollys Lieblingsautoren gefüllt – Louise Glück, Donald Justice, T.S. Eliot, Carson McCullers, Flannery O’Connor, Charles Dickens. Gelegentlich schöpfte sie aus einem demütigen Gefühl der Verwandtschaft mit diesen Schriftstellern Trost und Inspiration.
Meistens fühlte sie sich allerdings wie eine Hochstaplerin oder sogar wie eine Schwindlerin.
Ihre Mutter Thalia hatte gesagt, jede gute Autorin müsse gleichzeitig ihre schärfste Kritikerin sein. Deshalb redigierte Molly ihre Texte nicht nur mit dem Rotstift, sondern auch mit einem metaphorischen Beil. Mit Ersterem hinterließ sie Spuren blutigen Leidens, mit Letzterem machte sie manche Szene zu Kleinholz.
Mehr als einmal hatte Neil ihr beizubringen versucht, dass Thalia nie gesagt oder gemeint habe, echte Kunst könne aus der rohen Sprache nur mithilfe eines Selbstzweifels geschnitzt werden, der so scharf wie ein Meißel war. Für Thalia, behauptete er, sei die Arbeit auch ein Spiel gewesen.
Molly wusste, dass sie in einer aus dem Gleichgewicht geratenen Kultur lebte, in der sich oft die Sahne am Boden absetzte, während die dünnste Milch an die Oberfläche stieg. Angesichts dessen war es eher Aberglaube als Logik,
wenn sie glaubte, ihre Hoffnung auf Erfolg beruhe auf dem Aufwand an Leidenschaft, Schmerz und Feinarbeit, den sie ihren Texten widmete. Dennoch blieb sie, was ihr Werk anging, eine echte Puritanerin und hielt es für eine Tugend, sich selbst zu geißeln.
Ohne das Licht anzuknipsen, schaltete sie den Computer ein, setzte sich jedoch nicht sofort an den Schreibtisch. Während der Bildschirm aufleuchtete und die Erkennungsmelodie des Betriebssystems sie zu einer nächtlichen Arbeitssitzung begrüßte, ließ sie sich vom beharrlichen Rhythmus des Regens noch einmal zum Fenster locken.
Von dort aus überblickte sie die breite vordere Veranda. Das Geländer und das überstehende Dach umrahmten ein dunkles Panorama aus dicht zusammenstehenden Kiefern, einen seltsam leuchtenden Geisterwald wie aus einem verstörenden Traum.
Gebannt blickte Molly hinaus. Sie hätte nicht sagen können, warum, aber die Szenerie hatte etwas Beunruhigendes.
Für eine Romanautorin hat die Natur viele Lektionen bereit. Eine besteht darin, dass nichts die Fantasie so rasch und so vollständig gefangen nimmt wie ein ungewohntes Schauspiel.
Schneestürme, Überschwemmungen, Vulkane, Hurrikane, Erdbeben – solche Erscheinungen faszinieren uns, weil sie uns überdeutlich vor Augen führen, dass Mutter Natur sich verhält, als würde sie unter einer bipolaren Störung leiden. Das heißt, es ist ebenso wahrscheinlich, dass sie uns auslöscht wie dass sie uns zu Hilfe kommt; und ein abwechselnd fürsorgliches und zerstörerisches Elternteil ist das ideale Material für ein packendes Drama.
Silberne Kaskaden schimmerten auf den bronzenen Baumstämmen und sprenkelten Rinde und Äste mit blitzenden Glanzlichtern.
Vielleicht enthielt der Regen ein ungewöhnliches Mineral, das ihn schwach phosphoreszieren ließ.
Oder das Unwetter war von Westen gekommen, durch die verschmutzte Luft über Los Angeles und den angrenzenden Städten, und hatte dabei ein Hexengebräu von Schadstoffen aus der Atmosphäre aufgenommen, das für dieses bleiche, gespenstische Leuchten verantwortlich war.
Molly spürte, dass keine dieser beiden Erklärungen stimmen konnte und grübelte über eine dritte nach, als eine Bewegung auf der Veranda sie zusammenfahren ließ. Sie wandte den Blick von den Bäumen ab und richtete ihn auf die vom Dach beschattete Veranda direkt vor dem Fenster.
Geduckte, geschmeidige Gestalten bewegten sich da, so lautlos, fließend und geheimnisvoll, dass Molly einen Augenblick meinte, sie seien Produkte ihrer Fantasie, formloser Ausdruck ihrer Urängste.
Dann hoben zwei, drei, fünf von ihnen den Kopf, richteten gelbe Augen aufs Fenster und betrachteten sie forschend. Sie waren so wirklich, wie Molly es war, wenngleich mit schärferen Zähnen ausgestattet.
Auf der Veranda wimmelte es von Wölfen. Weitere schlichen aus dem Unwetter die Stufen herauf und versammelten sich unter dem Schutz des Dachs auf den Kieferndielen, als handelte es sich nicht um ein Haus, sondern um eine Arche, die bald, von den steigenden Wassern einer Sintflut emporgehoben, in See stechen würde.
2
Hier in den Bergen zwischen den wüstenhaften Gebieten im Osten und den Ebenen im Westen waren Wölfe schon lange
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