Todesregen
wiederholen.
Als die Kojoten nicht wieder auftauchten, wurde sie von dem Gefühl eines unbeschreiblichen Verlusts ergriffen. Verbunden damit war erneut der Eindruck, beobachtet zu werden, bei dem sich ihr schon vorher die Nackenhärchen aufgestellt hatten.
An anderen Tagen kam ihr der Wald manchmal wie eine grüne Kathedrale vor. Dann waren die mächtigen Kiefernstämme die Säulen eines riesigen Kirchenschiffs, über das sich die Fächer der Äste spannten wie ein Kreuzgewölbe.
Nun, da die ehrwürdige Stille des Waldes dem Rauschen des Regengusses gewichen war, sah die Dunkelheit, die sich zwischen den Bäumen sammelte, anders aus als in allen früheren Nächten. Der Gott dieser Kathedrale war der Herr der Finsternis.
Wieder äußerst beunruhigt, zog Molly sich von der Treppe zurück. Dabei wandte sie den Blick keine Sekunde von dem das Haus umzingelnden Wald ab, weil sie den
Eindruck hatte, jeden Moment könnte etwas zwischen den Kiefern hervorkommen und auf sie zustürmen, ein reißendes Wesen voller Wut.
Im Hausflur angekommen, schloss sie die Tür. Verriegelte sie. Stand zitternd eine kleine Weile da.
Ihr merkwürdiger Gefühlszustand überraschte und verstörte sie. Was sie antrieb, war weniger ihr Verstand als ihr Herz, eine Art Instinkt, durch den sie sich weniger wie eine Frau als wie ein überspannter Teenager fühlte, und das gefiel ihr gar nicht.
Um sich die Hände zu waschen, eilte sie in die Küche.
Als sie sich der offenen Tür näherte, sah sie, dass das Licht über dem Herd noch brannte. Offenbar hatte sie es angelassen, als sie ihren Becher Milch aufgewärmt hatte.
An der Schwelle zögerte sie, weil sie mit einem Mal den Eindruck hatte, jemand könnte in der Küche sein. Jemand, der sich durch die Hintertür geschlichen hatte, während sie von den Kojoten abgelenkt gewesen war.
Noch so ein überspanntes Gefühl. Töricht! Natürlich lauerte kein Eindringling ihr auf.
Sie ging quer durch die Küche direkt zur Hintertür und drehte am Knauf. Verriegelt. Gesichert. Da konnte niemand hereingekommen sein.
Funkelnde Regenschleier versilberten die Nacht. Dahinter konnten sich tausend Augen verbergen, die sie beobachteten.
Sie ließ das Rollo über dem Fenster neben dem Frühstückstisch herab. Dasselbe tat sie mit dem Rollo des Fensters über dem Waschbecken.
Dann drehte sie das Wasser auf, stellte die heißeste Temperatur ein, die sie gerade noch ertragen konnte, und schäumte die Hände mit Flüssigseife aus dem eingebauten Spender ein. Die Seife roch nach Orangen, ein erfreulich sauberer Duft.
Sie hatte keinen der Kojoten berührt.
Einen Augenblick begriff sie nicht, wieso sie so entschlossen ihre Hände wusch. Dann wurde ihr klar, dass sie den Regen abspülte, dessen merkwürdiges Aroma ihr irgendwie … unrein vorkam.
Sie ließ Wasser über die Hände laufen, bis sie rot und halb verbrüht waren. Dann pumpte sie erneut Seife heraus und schäumte sie noch einmal ein.
In der Mischung aus feinen, exotischen Düften war ein irgendwie vertrauter Geruch verborgen gewesen, rauchig und beißend, den Molly nicht richtig hatte deuten können. Obwohl sie ihn von den Händen gespült hatte, kam er ihr nun wieder ins Gedächtnis, und diesmal konnte sie ihn benennen: Sperma.
Zwischen den Aromen eines orientalischen Gewürzmarkts hatte der Regen den fruchtbaren Geruch von Sperma verströmt.
Das war eine so unwahrscheinliche, so absurd freudianische Vorstellung, dass Molly sich fragte, ob sie womöglich träumte oder neurotische Anwandlungen hatte.
Das unerklärliche Leuchten, der Spermaregen, die verängstigten Kojoten – alles, was sie auf ihrem Weg vom Bett bis zu dem dampfenden Wasserhahn erlebt hatte, jeder Schritt und jeder Augenblick, war von halluzinatorischer Natur.
Sie drehte den Hahn zu und hätte sich nicht gewundert, wenn es vollkommen still gewesen wäre, als der Wasserstrom versiegte. Doch das gewaltige Trommeln des unzeitgemäßen Regens war immer noch da, entweder in der Wirklichkeit oder als Untermalung eines besonders hartnäckigen Traums.
Irgendwo anders im Haus durchbohrte ein schriller Schrei das monotone Dröhnen des Unwetters. Im Obergeschoss. Ein zweiter Schrei. Neil. Mollys ruhiger, gelassener, unerschütterlicher Mann stieß mitten in der Nacht schaurige Schreie aus.
Da Molly schon im Alter von acht Jahren allzu viel Gewalt erlebt hatte, reagierte sie sofort, indem sie den Hörer des nahen Wandtelefons von der Gabel riss. Sie hatte schon die Notrufnummer
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