Todesträume am Montparnasse - Ein Fall für Kommissar LaBréa
Wirklichkeit zurück. Was war geschehen? Es war das geschehen, was er gesucht hatte. Ein Abendessen mit Jocelyn, eine anschlie ßende Liebesnacht. Sie hatten es beide gewollt und beide gewusst, dass sie es wollten. Von dem Moment an, als er Jocelyns Wohnung betrat, schien es LaBréa die selbstverständlichste Sache der Welt. Verflogen waren der letzte Rest schlechten Gewissens und jeglicher Gedanke an Céline.
Jocelyn hatte ein köstliches Essen zubereitet. Als Vorspeise gab es Loup de mer im Fenchelsud, als Hauptgericht gebratene Entenbrüste mit Mangospalten. Nach dem weißen Bordeaux, den Jocelyn
zum Fisch serviert hatte, reichte sie zum Fleischgericht einen Gigondas, ein wuchtiger, nach Beeren duftender Tropfen.
Trotz der Spannung, die zwischen ihnen lag, und trotz der erotischen Erwartungen nahmen sie sich Zeit beim Essen. Nach der Miles-Davis-CD legte Jocelyn Blue Train von John Coltraine auf.
»Woher weißt du eigentlich, dass ich ein Jazzfan bin?«, hatte LaBréa Jocelyn gefragt. Sie hatte gelacht und die Haare zurückgeworfen. Eine sorgfältig kalkulierte Geste, die er dennoch erregend und sexy fand.
»Hast du es vergessen, Maurice?«, sagte sie leicht spöttisch. »Du hast schon damals, als wir uns kennenlernten, mit deiner Jazzplattensammlung angegeben. Das habe ich mir gemerkt.«
»Heißt das, du hast die CDs extra für den heutigen Abend besorgt?«
»Ach was! Ich besitze selbst eine Menge Jazzmusik. Deine Leidenschaft von damals hat mich angesteckt.« Dann hatte sie ihm tief in die Augen geblickt. »Übrigens nicht nur deine Leidenschaft für Jazz.«
Als LaBréa die Pont St. Michel überquerte, hielt ein Taxi neben ihm.
»Möchten Sie irgendwohin, Monsieur?«, fragte ihn der Fahrer, ein junger Schwarzer. LaBréa winkte ab. »Nein danke.« Der Mann grinste, kurbelte die Scheibe hoch und fuhr weiter.
Eine Viertelstunde später bog er in seine Straße ein, die Rue des Blancs Manteaux. Er überquerte den ersten Hof und blickte unwillkürlich zur Eingangstür von Célines Wohnung. Rasch, als fühlte er sich ertappt, beschleunigte er seine Schritte. Er schloss seine Haustür auf, schaltete das Licht ein und hängte die Jacke an die Garderobe. Kater Obelix stand im Flur und blickte ihn aus großen Augen an. LaBréa fuhr dem Tier kurz übers Fell und murmelte: »Ich bin hundemüde, alter Junge.«
Bevor er ins Wohnzimmer ging, erinnerte er sich, dass sein Handy in der Innentasche der Jacke steckte. Er nahm es heraus und sah, dass im Display mehrere Nachrichten für ihn angezeigt wurden. Er checkte den Speicher und stellte aufgrund der angezeigten Nummern fest, dass die Nachrichten von Céline kamen. Mehrfach am Abend hatte sie versucht, ihn zu erreichen.
Er beschloss, seine Mailbox erst später am Morgen abzuhören.
Kurz darauf lag er im Bett und schlief sofort ein.
Tagebucheintragung
Wie still die Nacht ist! Die Stille erzeugt ein Geräusch, das beinahe wehtut. Ist es das Geräusch, das schmerzt, oder das Gefühl des Alleinseins, der Einsamkeit, der Leere?
Irgendjemand hat einmal gesagt, die größte Leere liege im Menschen selbst. In seinen Ängsten und Abgründen, in der Unabänderlichkeit des Todes, um die wir Menschen wissen. Der Tod ist der eigentliche Beherrscher der Welt, weil er am Ende immer siegt.
Von meinem Fenster aus sehe ich den Turm vom Montparnasse. Ein schwarzer Obelisk, der sich in den milchigen Himmel streckt, an dem die Sterne nur zu erahnen sind.
Ich hätte Lust, mich an den Flügel zu setzen und zu spielen. Ein Nocturne von Chopin, ein Impromptu von Schubert. Das Geräusch der nächtlichen Stille durchbrechen, mich hineinfallen lassen in die Musik.
Die Stadt schläft. Sie befindet sich im Zustand des Verharrens, des Wartens. Warten auf einen neuen Tag, an dem Leben und Tod sich erneut begegnen, so wie sie auch in dieser Nacht Hand in
Hand arbeiten. In dieser Stadt, diesem Land, überall auf diesem Planeten.
Ich habe Sehnsucht nach dem völligen Vergessen. Nach dem Zustand eines Embryos, geschützt im Mutterleib. Wie dunkle Fluten treiben die Erinnerungen heran. Ein Meer aus Schmerz und Verzweiflung. Dabei habe ich das wirkliche Meer nur selten gesehen. Vor einigen Jahren fuhr ich mit Louis zwei Wochen in die Bretagne. Es waren schöne Tage, doch sie hielten nicht vor. Wie eine zu kurze Decke nicht wärmt, konnte diese Zeit meine Vergangenheit nicht auslöschen.
Das Meer. Die Brandung. Ein immer gleicher Anblick, ein immer gleicher Ton. Eine Melodie
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