Todesträume am Montparnasse
hatte der Mörder seinem Opfer in dessen Wohnung aufgelauert oder sich auf andere Weise Zutritt verschafft. In jedem Fall musste er gewusst haben, dass Pascal Masson an diesem Tag aus dem Gefängnis entlassen werden sollte. Dass der Kfz-Mechaniker ein Zufallsopfer gewesen sein sollte, schien so gut wie ausgeschlossen. Vor allem im Hinblick auf die Art und Weise, wie er getötet worden war. Die ließ darauf schließen, dass es zwischen Opfer und Mörder irgendeine Verbindung geben musste.
»Claudine, Sie und Jean-Marc versuchen in Erfahrung zu bringen, wo Masson nach seiner Entlassung gestern Morgen gewesen ist«, fuhr LaBréa fort. »Hat ihn jemand vor den Toren der Santé erwartet und abgeholt? Was hat er den ganzen Tag über gemacht? Hat er sich mit jemandem getroffen? Hat er Paris möglicherweise kurzzeitig verlassen?«
»Da man seine Alkoholfahne jetzt noch riechen kann«, meinte Claudine, »hat er vermutlich gleich nach seiner Entlassung gestern eine große Sause steigen und sich volllaufen lassen.«
»Finden Sie es heraus. Um vierzehn Uhr steigt die Talkrunde in meinem Büro. Franck, Sie kommen mit Monsieur Couperin und mir.«
LaBréa wandte sich noch einmal an Brigitte Foucart. »Was meinst du, Brigitte, wer würde einen Mann per Kastration töten?«
Brigitte zuckte mit den Schultern.
»Keine Ahnung, Maurice. Jemand, der eine dicke Rechnung mit dem Ermordeten offen hatte. Im Übrigen erinnert mich das Ganze in gewisser Weise an den erhängten Vergewaltiger heute Morgen in der Santé. Dessen Geschlechtsteil war besprüht . Das hier wurde gleich ganz entfernt. Klingelt es da nicht bei dir?«
»Du meinst, diese militante Frauengruppe könnte dahinterstecken?«
Brigitte antwortete nicht, wiegte nur vielsagend den Kopf.
»Was für eine militante Frauengruppe?«, fragte Ermittlungsrichter Couperin erstaunt. »Würden Sie mich bitte aufklären, LaBréa?«
»Gewiss, aber wir sollten uns zunächst die Kassette anhören.«
4. KAPITEL
Couperin streifte dünne Gummihandschuhe über, nahm die Kassette aus der Hülle und schob sie ins Kassettendeck seines Autoradios.
Nach einigen Sekunden schwoll Musik rasch und laut an.
»Das kommt mir irgendwie bekannt vor«, sagte Franck nach den ersten Takten. Er saß auf der Rückbank des Wagens und beugte sich nach vorn. LaBréa drehte sich weg, um seinen schlechten Atem nicht riechen zu müssen.
»Ja, Monsieur Zechira, das ist ein sehr bekanntes und populäres Musikstück.« Couperin sprach lauter als sonst, um die Musik zu übertönen. »Eines der bekanntesten, das je geschrieben wurde. Der Boléro von Maurice Ravel.«
LaBréa nickte zustimmend. Seine Eltern hatten eine Schallplattenaufnahme davon gehabt. Der Boléro war eines der Lieblingsstücke seines Vaters gewesen. LaBréa lauschte den Klängen, die nach einigen Minuten mit einem furiosen Schlusstakt endeten.
Couperin ließ die Kassette weiterlaufen. Aber das Band schien nichts weiter zu enthalten. Die drei Männer warteten noch eine Weile, doch es ertönte nur
noch ein Rauschen. Couperin hielt das Band an und ließ es zurückspulen.
»Wir hören es uns gleich noch einmal an«, meinte er.
»Ich stoppe mal die Zeit.« Sobald die Musik ertönte, drückte Franck auf den Timer seiner Pilotenuhr.
Das eingängige Thema des Musikstückes erklang in dem engen Innenraum des Wagens noch wuchtiger als beim ersten Mal. Beinahe bedrohlich, wie LaBréa empfand.
»Exakt drei Minuten und fünfundvierzig Sekunden«, sagte Franck, als der letzte Ton verklungen war.
»Was wir hier hören, ist nur der Schlussteil des Boléro .« Der Ermittlungsrichter stellte das Band ab. »Wenn ich mich recht erinnere, ist das Stück insgesamt etwa vierzehn Minuten lang. Das Band setzt also ungefähr in der elften Minute ein. Im Prinzip besteht der Boléro ja aus der fortwährenden Wiederholung eines einzigen Themas, das sich stetig steigert und durch ständiges Hinzufügen weiterer Instrumente eine sogartige Wirkung auf den Zuhörer entfaltet. Das ist das Geheimnis der Popularität dieses Stückes.«
»Besser hätte uns das ein Musikwissenschaftler auch nicht erklären können«, sagte LaBréa anerkennend. Er wusste zwar, dass Couperins große Leidenschaft den schönen Künsten galt. Er ging regelmäßig ins Theater, verpasste keine größere Ausstellung und besaß ein Abonnement für die Opéra Bastille. Eine solch detaillierte Kenntnis verblüffte dennoch.
Couperin räusperte sich und legte die Hände auf das Lenkrad, dann fuhr er
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