Todesträume am Montparnasse
Olympischen Spielen in Seoul war etwas ganz Besonderes, auch wenn Du keine Medaille erringen konntest. Aber Du warst die Jüngste im Kader unseres Landes. Noch heute bin ich stolz auf Dich, Maja.
Vor einigen Tagen habe ich ein sehr schönes Gedicht gelesen. Geschrieben hat es die deutsche Dichterin Hilde Domin. Ich will Dir die Zeilen nicht vorenthalten:
Haus ohne Fenster
Der Schmerz sargt uns ein
in einem Haus ohne Fenster.
Die Sonne, die die Blumen öffnet,
zeigt seine Kanten
nur deutlicher.
Es ist ein Würfel aus Schweigen
in der Nacht.
Der Trost,
der keine Fenster findet und keine Türen
und hineinwill,
trägt erbittert das Reisig zusammen.
Er will ein Wunder erzwingen
und zündet es an,
das Haus aus Schmerz.
Schreib mir, was Du von diesem Gedicht hältst und ob es Dich ebenso berührt wie mich.
Allerliebste Grüße aus einem winterlichen, verschneiten Paris. Ich umarme Dich ganz fest und bin immer
Deine beste Freundin E.
9. KAPITEL
Gegen Morgen war ein scharfer Wind aufgekommen. In heftigen Böen stob er auf das verschneite Glasdach der Atelierwohnung.
LaBréa sah auf den Wecker. Sechs Uhr dreißig. Zu früh, um aufzustehen, zu spät, um noch einmal einzuschlafen. Er lauschte den knackenden Geräuschen des Daches, das sich gegen die Gewalt des Windes zu wehren schien. Kann das Glas springen?, fragte sich LaBréa. Welche Schneelast hält dieses Material aus?
Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte in die Dunkelheit. Die Erinnerung an das zufällige Zusammentreffen mit Jocelyn Borel am gestrigen Abend durchströmte ihn wie eine warme, prickelnde Flut. Wie er es auch drehen und wenden mochte: Er begehrte sie. Erstaunt stellte er fest, dass dieser Gedanke kein schlechtes Gewissen in ihm hervorrief, wie gestern noch. Die Sehnsucht nach Sex mit Jocelyn schien nicht mehr im Widerspruch zu seiner Liebe zu Céline zu stehen. Oder war dies nur eine bequeme Ausrede, eine Rechtfertigung, um jegliche moralischen Bedenken über Bord zu werfen? Die Antwort auf diese Frage blieb LaBréa sich vorerst schuldig, denn sein Handy klingelte. Es lag, wie
immer, wenn LaBréa zu Hause war, eingeschaltet auf seinem Nachttisch.
Er knipste das Licht an und sah Franck Zechiras Namen auf dem Display. Um diese Zeit konnte das nichts Gutes bedeuten.
»Ja, was gibt’s, Franck?«
Francks Worte kamen stoßweise, als müsste er sie gegen seinen Willen ausspucken.
»Anruf vom Kommissariat des Zehnten Arrondissements. Männliche Leiche. Rue du Château d’Eau Nummer sechs. Ein altes Fabrikgelände. Das Opfer liegt draußen im Schnee. Kastriert.«
LaBréa stockte der Atem. Abrupt richtete er sich im Bett auf. »Gibt es sonst noch Parallelen zum Mord an Masson?«
»Scheint so, nach dem, was der Kollege sagte. In zehn Minuten hole ich Sie ab, Chef. Dr. Foucart ist informiert, Claudine und den Paradiesvogel rufe ich gleich an.«
»Gut. Ich stehe dann vor der Haustür.«
LaBréa sprang aus dem Bett und wäre um ein Haar über Kater Obelix gestolpert, der wie aus dem Nichts im Schlafzimmer aufgetaucht war und LaBréa erwartungsvoll ansah.
»Nichts da«, sagte LaBréa. »Warte gefälligst, bis die Mädchen aufstehen, dann bekommst du dein Fressen.« Er eilte ins Badezimmer. Hastig fuhr er sich mit dem Rasierapparat einige Male übers Gesicht. Für eine gründliche Rasur reichte die Zeit nicht. Er schüttete
sich eine Handvoll kaltes Wasser ins Gesicht, putzte flüchtig die Zähne und klatschte einige Tropfen Aftershave auf seine Wangen.
Im Wohnzimmer warf er einen Blick durch die gro ßen Glasfenster in den Garten. Der Wind schüttelte die Zwergzypresse, und LaBréa fröstelte bei dem Anblick.
Er zog seinen dicksten Rollkragenpullover, eine Cordhose und derbe Stiefel an. Zum Frühstück blieb keine Zeit.
Er durchquerte das Wohnzimmer und klopfte an die Tür seiner Tochter. »Herein!«, tönte eine muntere Stimme.
Die beiden Mädchen waren bereits wach, saßen im Bett und lasen gemeinsam den neuesten Asterix- Band, der erst vor wenigen Tagen erschienen war.
»Ich muss dringend weg, Jenny. Macht euch Frühstück und gebt Obelix zu fressen. Ich melde mich im Lauf des Vormittags auf deinem Handy. Wie lange hast du heute Schule?«
»Bis fünf. Ich komme dann gleich nach Hause.«
»Gut. Also, bis dann.«
Vor dem Haus schaufelte Monsieur Hugo, der pensionierte Postbeamte und Concierge, den Schnee vom Bürgersteig. LaBréa tauschte ein paar belanglose Worte mit ihm, dann kam auch schon Franck.
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