Todesträume am Montparnasse
er sie ein, Platz zu nehmen. »Möchtest du ein Glas mit mir trinken?«
»Sehr gern. Und einen Riesenhunger hab ich. Gibt’s hier auch was zu essen?«
In diesem Moment erschien die Wirtin mit einem dampfenden Teller.
»Oh, das sieht ja himmlisch aus, und wie das duftet!« Jocelyn strahlte. »Für mich bitte dasselbe! Was ist das, Kalbsfilet?«
»Nein, Kaninchenrücken. Sie haben Glück. Es ist gerade noch eine Portion da.«
»Und bringen Sie mir auch ein Glas von diesem Wein, Madame.« Jocelyn streifte ihre Handschuhe ab und zog ihr pelzgefüttertes Cape aus. LaBréa beeilte sich, ihr dabei zu helfen. Mit geübtem Blick erfasste er ihre Gestalt und musste zugeben, dass Jocelyn in ihrem engen schwarzen Cashmerepulli und dem dazu passenden Rock, den Lammfellstiefeln und der Pelzkappe hinreißend aussah. Wie eine russische Gräfin aus Anna Karenina oder Doktor Schiwago , dachte LaBréa spontan. Einen Moment durchflutete ihn die Erinnerung an ihre Ferienliaison, damals, als sie jung waren. Heiße Liebesnächte am Strand der Côte d’Azur, die Unbeschwertheit eines Sommers …
Als ahnte Jocelyn Borel seine Gedanken, blickte sie ihm tief in die Augen.
»Ach Maurice, du hättest wenigstens einmal zurückrufen können. Ich kam mir schon ganz komisch vor, immer auf deinen Anrufbeantworter zu sprechen.«
»Du hast recht«, gab er zu. »Und ich entschuldige mich dafür. Aber ich stecke seit Monaten in viel Arbeit und weiß kaum, wo mir der Kopf steht.«
»Dann brauchst du ja umso dringender einen entspannenden Abend! Komm doch mal zu mir zum Essen.«
LaBréa nickte vage und bereute seine Idee, einen Abstecher in dieses Lokal gemacht zu haben.
Als Jocelyns Essen serviert wurde, aßen sie eine Weile schweigend, wobei Jocelyn nicht versäumte, immer wieder LaBréas Blick zu suchen und ihm das Lächeln ihres sinnlichen Mundes zu schenken.
Dann tauschten sie ein paar Belanglosigkeiten aus. Jocelyn erzählte von ihrer Arbeit in der Schule (sie war Lehrerin am Lycée Charlemagne, Jennys Schule), was LaBréa nicht sonderlich interessierte. Jocelyn wiederum wollte wissen, wie LaBréa sich inzwischen in Paris eingelebt hatte und wie es ihm privat ging. Ihre Fragen zielten eindeutig darauf ab, herauszufinden, ob es eine Frau in LaBréas Leben gab. Er hielt sich jedoch bedeckt, und Jocelyn war am Ende genauso schlau wie zuvor.
Eine gute halbe Stunde später verließen sie das Lokal. LaBréa begleitete Jocelyn zum Taxistand. Sie
umarmte ihn zum Abschied und presste ihre Wange an sein Gesicht. LaBréa spürte ihre weichen Formen und roch den Duft ihrer Haut. Erstaunt stellte er fest, dass ihn das plötzlich erregte. Er ließ sich nichts anmerken und winkte Jocelyn nach, als das Taxi im dichten Schneetreiben davonkroch.
Mit zwiespältigen Gefühlen begab er sich auf den Heimweg. Jocelyns direkte, zielgerichtete Art stieß ihn im Grunde genommen ab. Er wollte nicht in ihre Falle tappen, wollte nicht zu ihrer Beute werden. Dennoch hatte sein Körper sich heftig zu ihr hingezogen gefühlt.
Er beschloss, diesem Gedanken sofort einen Riegel vorzuschieben und diesem Gefühl auf keinen Fall nachzugeben. Jocelyn würde sich weiterhin mit seinem Anrufbeantworter zufriedengeben müssen. Basta.
Nur noch wenige Meter bis zu seiner Haustür. LaBréa schüttelte den Schnee von Haaren und Jacke. Als er durch den ersten Hof ging, vorbei an Célines Wohnung, empfand er so etwas wie ein schlechtes Gewissen. Er liebte Céline und war dennoch für Jocelyn Borels Reize empfänglich gewesen … Diese Gedanken verflogen sogleich, als er seine Wohnungstür aufschloss.
»Was ist denn hier los?!«
Aus der Küche erklang lautes Gekreische, untermalt von einem knallenden Geräusch, als fielen Schüsse.
»Los, schnell, Alissa, mach den Deckel drauf!«, hörte er Jennys gellende Stimme. Gleich darauf steckte sie ihren Kopf durch die Küchentür und sah ihren Vater.
»O Mann!«, sagte sie mit hektischer Stimme. »Du kommst echt im allerungünstigsten Moment.«
»Das scheint mir auch so.«
Mit raschen Schritten durchquerte LaBréa das Wohnzimmer und sah, was sich in der Küche abspielte. Jennys Freundin Alissa stand am Herd und hielt einen Deckel auf den großen Aluminiumtopf, in dem normalerweise Spaghetti und andere Pasta gekocht wurden. Ihr Gesicht war rot angelaufen. Aus dem Topf kamen knallende Geräusche.
Der steinerne Küchenboden, das Spülbecken und sämtliche Küchenmöbel waren mit Popcorn bedeckt. Zwei Jungen in Jennys Alter
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