Todesträume am Montparnasse
Uhr hatte es aufgehört zu schneien. Da war der Mörder schon hier; er muss vor dreiundzwanzig Uhr ins Gebäude gelangt sein. Dies unterstützt deine Schätzung des möglichen Todeszeitpunktes, Brigitte.«
Die Gerichtsmedizinerin nickte. »Die Wegdrückbarkeit der Totenflecken ist unvollständig. Sie sind
hellrot, das kann ebenfalls mit der Außentemperatur, aber auch mit dem hohen Blutverlust infolge der Kastration zusammenhängen. Meinen genauen Bericht bekommst du im Lauf des Tages, Maurice. Und sieh zu, dass du diesen Geisteskranken bald schnappst, denn ein solches Schlachtfest möchte ich mir kein weiteres Mal antun.«
Der Leichnam wurde abtransportiert.
Claudine streifte die Gummihandschuhe ab. Ihre Finger waren blaugefroren. Rasch zog sie ihre Wollhandschuhe an.
»Übrigens, Chef, ich weiß nicht, ob Sie die Gegend hier gut kennen. Aber es ist doch interessant, dass diese Oldtimer-Bikerin, Hortense Vignal, nur zwei Stra ßen entfernt wohnt. In der Rue Boulanger. Ein Fußweg von zwei Minuten bis hierher. Komischer Zufall, finden Sie nicht?«
»Tatsächlich? Dann ändere ich meine Meinung von gestern. Wir beide werden der Dame jetzt vorsichtshalber einen Besuch abstatten. Da wir ohnehin die Leute hier im Viertel befragen müssen, ob jemand den Toten gekannt hat, haben wir einen wunderbaren Vorwand. - Blondel?«, rief LaBréa dem Fotografen zu. »Haben Sie Polaroidfotos von dem Toten gemacht, damit wir sie den Nachbarn und Anwohnern zeigen können?«
»Selbstverständlich, Commissaire. Für jeden von Ihnen mehrere Aufnahmen.« Er überreichte LaBréa und seinen Mitarbeitern die Polaroids.
»Danke. - Also, Franck und Jean-Marc, nehmen Sie sich systematisch das Viertel vor. Cafés, Kneipen, die Geschäfte, Handwerksbetriebe, Privathaushalte. Fordern Sie aus der Abteilung zwei Mann Verstärkung an. Claudine und ich gehen in die Rue Boulanger. Die Talkrunde steigt um vierzehn Uhr. Ich lasse Sandwiches aus der Kantine kommen. Zeit für eine Mittagspause bleibt heute nicht.«
10. KAPITEL
Das Viertel zwischen Boulevard de Strasbourg und Boulevard de Magenta pulsierte, aber die Zusammensetzung der Bevölkerung hatte sich in den letzten Jahren dramatisch verändert. Junge Schwarze standen in Gruppen an den Métroausgängen. Drogendealer, Zuhälter. Sie sprachen Passanten an, folgten ihnen einige Schritte, wandten sich neuen potenziellen Kunden zu. Die Afrikaner hatten seit geraumer Zeit ihr Revier immer weiter ausgedehnt. Barbès erstreckte sich jetzt praktisch bis zur Grenze des Dritten Arrondissements. In heruntergekommenen Läden wurde Billigkleidung gleich aus den Kartons heraus verkauft: Jeans, Freizeitund Sportkleidung, Lederwaren. Auffällig waren die vielen kleinen Friseursalons. Dort standen die Menschen oft bis auf die Straße Schlange, um sich von kundiger Hand Dreadlocks flechten zu lassen. Selbst Kleinkinder trugen bereits diese Haartracht. LaBréa wusste, die meisten Einwohner dieses Viertels waren illegale Einwanderer.
Trotz regelmäßiger Razzien hatte das Viertel sich der Aufsicht des Staates und der Polizei weitgehend entzogen. Viele, die hier wohnten, hatten keine Aufenthaltsgenehmigung und waren schon seit Jahren
untergetaucht. Ideal für Leute, die etwas zu verbergen hatten. Ideal auch für Menschenhändler und skrupellose Ausbeuter, die sich die Not ihrer illegal eingeschleusten afrikanischen Landsleute zunutze machten.
Das Haus Nummer neun in der Rue Boulanger war ein schlichter zweistöckiger Bau. Im Erdgeschoss befand sich der Schnellimbiss Zeda Café . An der Haustür gab es weder Namens- noch Klingelschilder. Im ersten Hof lag eine Änderungsschneiderei. In dem kleinen Raum arbeiteten zwei Afrikaner an Nähmaschinen. Eine junge Frau in bunter afrikanischer Tracht stand an einem Dampfbügelautomaten, einem älteren Modell, und plättete eine Hose. Der Patron, ein stämmiger Mann mit grauen Schläfen, blutunterlaufenen Augen und großporiger Haut, las die Sportzeitung L ’ Equipe . Als LaBréa und Claudine die Schneiderei betraten, schlug ihnen stickige Luft entgegen. Der Patron legte sofort die Zeitung beiseite und fragte, was die Herrschaften wünschten.
LaBréa zog das Foto des toten Unbekannten aus der Tasche.
»Kennen Sie diesen Mann, Monsieur?«
Der Patron nahm das Polaroid in die Hand, betrachtete es eingehend und schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er, »den habe ich nie gesehen. Was ist mit ihm, wurde er umgebracht?« Seine Augen weiteten sich vor Schreck, doch LaBréa
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