Familienpakt: Kriminalroman (German Edition)
1
Der starke Frost der vergangenen Tage war vorübergehend einem schmuddeligen Tauwetter mit feinem Nieselregen gewichen und verwandelte die noch immer tiefgefrorenen Straßen in spiegelglatte Rutschbahnen. Ebenso wie alle anderen Verkehrsteilnehmer kamen die Streifenwagen im dichten Feierabendverkehr kaum voran. Genauso schwer tat sich Konrad Keller, der auf das Dach seines anthrazitgrauen Dienst-Audis ein Blaulicht gepflanzt hatte und das Martinshorn ohne Unterlass heulen ließ.
»Verdammt! Verflucht! So ein Mist!« Keller schimpfte vor sich hin und trommelte mit den Händen auf das Lenkrad. Selten in seiner langjährigen Karriere hatte es dem Polizeioberrat so sehr unter den Nägeln gebrannt, einen Tatort so schnell wie möglich zu erreichen. Denn selten hielt sich der Täter noch am Ort des Geschehens auf – und noch seltener handelte es sich bei einem Täter um einen Amokläufer! Keller wusste: Wenn er oder seine Kollegen nicht binnen kürzester Frist im Südklinikum ankommen würden, gäbe es ein Blutbad!
Kurz entschlossen setzte sich Keller über alle Verkehrsregeln hinweg, schlug das Steuer ein und ließ seinen Wagen über die Bordsteinkante rumpeln. Auf dem Gehsteig fuhr er weiter, hupte und wedelte mit dem linken Arm, um die Fußgänger aus seiner Fahrtrichtung zu vertreiben.
Über Funk meldete sich krächzend die Leitstelle mit der Hiobsbotschaft, dass sich das Eintreffen des Sondereinsatzkommandos ebenfalls verzögern werde. Denn der Hubschrauber des SEK habe wetterbedingt noch nicht abheben können.
»Verflixt!«, fluchte Keller lautstark weiter und musste unvermittelt bremsen, als eine Mutter mit Kinderwagen vor ihm auftauchte. Die Bremswirkung auf dem noch immer eisglatten Gehweg fiel gleich null aus, Keller riss das Steuer herum, rumste in einen Schneehaufen. Schimpfend wie ein Rohrspatz legte er den Rückwärtsgang ein, doch die Räder drehten durch. Er steckte fest. Auch das noch!
Ruckzuck sah er sich von Schaulustigen umzingelt. Zwei Männer und eine Frau lösten sich aus der Menge der Gaffer, stemmten ihre behandschuhten Fäuste auf die Motorhaube und schoben den Audi aus der Schneefalle. Keller bedankte sich für die spontane Hilfe und gab abermals Gas.
An der nächsten Kreuzung konnte er den Gehweg verlassen und sich wieder in den Straßenverkehr einfädeln. Die Ausfallstraße war breit genug, damit die anderen Fahrer eine Schneise für ihn bilden konnten.
Nahezu gleichzeitig mit zwei Streifenwagen kam er beim Südklinikum an. Der weitläufige Komplex aus Glas, Stahl und Beton hob sich hell erleuchtet aus der einsetzenden Dämmerung ab. An der Seite der Schutzpolizisten lief Keller mit gezogener Waffe den endlos langen, überdachten Fußweg zum Haupteingang des Klinikums entlang. Dort hatten sich bereits etliche Ärzte, Schwestern und Pfleger versammelt, wild durcheinander redend und gestikulierend. Zwischen ihnen standen Patienten in Nachthemden, die sich teilweise an rollbaren Infusionsständern festhielten.
»Die Kinder-OP!«, brüllte Keller in die panische Gruppe. »Wo geht’s lang?«
Kellers Rufe sorgten kurzzeitig für Ruhe. Dann riefen wieder alle durcheinander. Nur mit Mühe konnte er die für ihn wichtigen Hinweise heraushören: »Zweites OG im Gebäudeteil A!«, »Das ist der mittlere Block!«, »Im OP-Trakt!«, »Saal 10 oder 11!«
Gemeinsam mit zwei der Uniformierten setzte sich Keller in Bewegung, die anderen Beamten ließ er zum Schutz und zur Beruhigung der Belegschaft und der Patienten am Eingang zurück.
Geisterhaft leer lagen die langen Gänge und Flure vor ihnen. Sie mussten sich mehrmals an Fluchtplänen orientieren, bis sie den richtigen Gebäudeteil gefunden hatten. Sie stießen die letzte Tür auf, die sie vom Bereich der Operationssäle noch trennte. Dann rutschte Keller aus.
Rückwärts fallend konnte er sich gerade noch mit den Händen abfangen. Dennoch spürte er beim Aufprallen auf dem Boden einen heftigen Schmerz im Steißbein. Auf den Schmerz folgte der Schreck: Denn im Fallen war ihm seine Dienstwaffe entglitten und lag nur einige Meter vor ihm mitten im Flur.
Die Ursache für Kellers Sturz war tiefrot und schmierig. Der Verursacher des Blutsees auf dem Linoleumboden stand nur wenige Schritte von ihm entfernt: ein Mann im Alter von etwa 40 Jahren, eine unscheinbare Erscheinung, mager, mit lichtem Haar. Er trug einen sandfarbenen Anzug unter einem zur Hälfte aufgeknöpften, dunklen Wintermantel. In der Hand hielt er ein Fleischmesser mit circa 20
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