Töchter des Mondes, Band 01: Cate (German Edition)
beunruhigt mich doch. Er ist gerade erst seit ein paar Tagen aus New London zurück. Wird er uns bald schon wieder verlassen? Die Zeit, die er zu Hause verbringt, wird von Jahr zu Jahr kürzer.
Tess schaut sehnsüchtig zum Rosengarten am Ende des Weges. »Dann gibt es heute keine Übungsstunde?«
»Nach der Vorstellung gerade? Nein.« Ich schüttele den Kopf. »Das weißt du doch genau.«
»Es konnte uns niemand vom Haus aus sehen, Cate. Wir waren hinter der Hecke. Wir hätten es gehört, wenn jemand gekommen wäre, genauso wie wir John gehört haben.«
Ich ziehe die Stirn in Falten. »Keine Zauberei außerhalb des Rosengartens. Mutter hat die Regeln aufgestellt, um uns zu schützen«, gebe ich zurück.
»Ja,wahrscheinlich«,seufztTess.SielässtdieschmalenSchulternhängen,undestutmirunendlichleid,ihrdiesekleineFreudegenommenzuhaben.Alsichsoaltwarwiesie,liebteiches,durchdieGärtenzulaufen,undichwarbestimmtgenausounvorsichtigbeimZauberngewesen.AberichhatteMuttergehabt,dieaufmichaufpasste.JetztmussichfürTessundMauradieMutterspielenunddaswildeMädchen,dasimmernochinmirstecktundherauswill,ignorieren.
Den Weg zurück zum Haus gehe ich voran. In der Küche angekommen, hängen wir unsere Mäntel an die hölzernen Haken an der Innenseite der Tür. Mrs O’Hare steht über einen brodelnden Topf mit ihrer furchtbaren Fischsuppe gebeugt. Dabei summt sie Bruchstücke eines alten Kirchenliedes und nickt mit ihrem grauen Lockenkopf im Takt. Sie lächelt uns an und zeigt auf einen Haufen Möhren auf dem Küchentisch. Tess macht sich sogleich an die Arbeit und fängt an, die gewaschenen Möhren zu schneiden. Sie hilft gern in der Küche. Sie liebt es, Zutaten abzumessen, miteinander zu vermengen und zu würzen. Es geziemt sich eigentlich nicht für Mädchen unseres Ranges, aber Mrs O’Hare hat es schon lange aufgegeben, uns beizubringen, was sich geziemt und was nicht.
Die schwere Eichenholztür zu Vaters Arbeitszimmer steht einen Spaltbreit offen. Ich kann ihn am Schreibtisch sitzen sehen, sein Rücken ist ganz krumm vor Erschöpfung, so als würde er am liebsten ein Nickerchen machen. Aber vor ihm liegt ein Stapel in Leder gebundener Bücher, und ich habe keinen Zweifel daran, dasser sich nach unserem Gespräch weiter mit ihnen beschäftigen wird. Und wenn er mit diesen Büchern fertig ist, warten noch Dutzende andere im Regal darauf, ihren Platz einzunehmen. Er ist zwar Geschäftsmann, aber in allererster Linie ist er doch ein Gelehrter.
Ich klopfe an und warte darauf, dass er mich hereinbittet. »John sagt, du wolltest mich sprechen?«
»Komm herein, Cate. Mrs Corbett und ich dachten, wir sollten dich mit einbeziehen, was unser neues Vorhaben angeht, denn es betrifft euch Mädchen.« Vater zeigt in die Zimmerecke, wo Mrs Corbett wie eine dicke Spinne auf dem vornehmen roten Sofa sitzt und ihre hilfreichen Pläne spinnt.
»EinneuesVorhaben?«,wiederholeichundtretenäherandenSchreibtischheran.ZuMuttersLebzeitenhatteMrsCorbettdenkbarwenigInteresseanunsgezeigt,aberseitMuttergestorbenist,hatsieimmerdiebestenRatschlägefürihreNachbarn.Zuletzthatsievorgeschlagen,michaufdieKlosterschulederSchwesternzuschicken.Esbliebmirnichtsanderesübrig,alsVatersEntscheidungdagegenzuerzwingenundseineErinnerungdaranauszulöschen.Erweißjetztnurnoch,dasserzudemSchlussgekommenist,dassesnichtgutgewesenwäre,michsoschnellnachMuttersTodfortzuschicken.
In seine Gedanken einzudringen ist das Schlimmste, was ich jemals getan habe. Aber es war einfach notwendig. Wie hätte ich sonst mein Versprechen halten können, mich um meine Schwestern zu kümmern? New London liegt zwei Tagesreisen entfernt.
»Ich denke – beziehungsweise Mrs Corbett hat angeregt … « Vater druckst herum, bis er endlich auf den Punkt kommt. »Eine Gouvernante! Eine Gouvernante wäre genau das Richtige!«
Oh nein.
Ich recke mein Kinn vor. »Das Richtige wofür?«
Vaters schmales Gesicht errötet. »Für eure Ausbildung. Ich gehe nächste Woche zurück nach New London, und ich werde den größten Teil des Herbstes fort sein. Das ist eine viel zu lange Zeit ohne Unterricht für euch Mädchen.«
Das Herz wird mir schwer. Ein paar Stunden hier und da, um unsere französische Aussprache und unsere Lateinübersetzungen zu korrigieren, das ist die einzige Zeit, die wir noch mit Vater gemeinsam verbringen. Jetzt werden wir auch darauf verzichten müssen. Ich habe schon vor Jahren gelernt, dass ich nicht auf Vater zählen kann, aber Tess? Es wird ihr das Herz
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