Macabros 088: Die flüsternden Pyramiden
Das Unwetter stand am nächtlichen Himmel. Grollend rollte der
Donner. Die Frau im Zimmer – durch den Widerschein der Blitze
erhellt – wirkte gespenstisch.
Einsam lag das Haus auf dem Hügel, von dem aus der Blick ins
Tal führte, wo man die ersten Häuser sah. Es regnete in
Strömen.
Brenda Millan war allein. Die Frau mit dem kurzgeschnittenen,
braunen Haar war nicht sehr attraktiv. Ihre Haut schimmerte
blaß, die Augen schienen klein, der Mund schmal, daß man
ihn schon beinahe als hart bezeichnen konnte. Brenda Millan war
vierzig Jahre alt. Sie hätte mehr aus ihrem Typ machen sollen
durch eine richtige Frisur, ein geschicktes Make-up und vor allem
durch vorteilhaftere Kleidung. Auf alle diese Dinge legte die Frau
keinen gesteigerten Wert. Auch auf Geselligkeit nicht.
Die Millans wohnten rund acht Kilometer vom Dorf entfernt. Einmal
in der Woche fuhr Brenda zum Einkaufen. Sie besorgte
grundsätzlich alles selbst, stellte den Speisezettel zusammen,
säuberte das Haus und kümmerte sich um den Garten. Dabei
hätte sie das schönste Leben haben können.
Die Millans waren reich. Beide Ehepartner hatten genug mit in die
Ehe gebracht, um die Freuden des Daseins zu genießen und andere
für sich arbeiten zu lassen.
Brenda und Philip Millan hatten nur eine Leidenschaft: Sammeln
alter Bücher und Bilder, die einer besonderen Kategorie
zugeordnet werden mußten. Sie enthielten das Okkulte,
Esoterische… In den Büchern war von geheimnisvollen und
rätselhaften Vorgängen die Rede, auf den Bildern zeigten
namhafte und auch unbekannte Künstler eine Welt, wie es sie
nicht gab… wie man sie nicht kannte.
Brenda und Philip Millan gehörten zu jenen Menschen, die
überzeugt davon waren, daß die irdische, sichtbare Welt
nicht die einzige war.
Die vierzigjährige Fabrikantentochter hatte ihren Mann in
einem spiritistischen Zirkel kennengelernt. Das gemeinsame Interesse
an den gleichen Phänomenen schien dieser Ehe eine bemerkenswerte
Festigkeit zu geben.
Brenda Millan war an das Alleinsein gewöhnt. Es kam oft vor,
daß ihr Mann tagelang unterwegs war. Er durchstöberte dann
alle Antiquariate und Buchhandlungen, in der Hoffnung, auf einen
interessanten Fund zu stoßen.
Ein neuer Donnerschlag ließ die Luft erzittern. Das Grollen
war so heftig, daß die Fensterscheiben bebten.
Ein solches Unwetter mit sintflutartigem Regen überfiel diese
Gegend schon lange nicht mehr.
Brenda Millan fürchtete sich nicht davor.
Sie sah gern zu, wenn Blitze den nächtlichen Himmel
spalteten, und sie stellte sich dann immer vor, daß
geheimnisvolle, unsichtbare Kräfte mit dem Blitz in die Welt
getragen wurden. Medial veranlagte Menschen spürten und
fühlten sie.
Sie warf einen Blick auf die Armbanduhr.
Wenige Minute nach halb zwei Uhr nachts…
Brenda war überhaupt nicht müde. Sie fühlte sich
merkwürdig aufgekratzt, beinahe nervös.
Warum? Wovor?
Hing es damit zusammen, daß sie wieder – in dem Buch
gelesen hatte?
Es war die rätselhafteste Schrift, die Philip jemals
aufgespürt hatte. Sie hieß »Das Buch der
Totenpriester«! Nicht das Original, das es wahrscheinlich nicht
mehr gab, sondern eine übersetzte Abschrift, die aber auch
immerhin schon vier- oder fünfhundert Jahre alt war.
Im Text war die Rede von einer gewissen
»Rha-Ta-N’my«… Sie wurde als
Dämonengöttin, als Herrin der Finsternis und Meisterin des
Dämonischen bezeichnet. Ihr unterstanden mehrere
Hauptdämonen und das Heer der unzählbaren Untergeister.
Jene fragwürdige Gestalt Rha-Ta-N’my sollte einst auf der
jungfräulichen Erde gelebt und ihre unheimlichen Untertanen
befehligt haben. Die Erde lag seit jeher im Interesse ihres Denkens.
Doch dann trat etwas ein, womit auch Rha-Ta-N’my offenbar nicht
gerechnet hatte. Sie mußte die Erde verlassen. Ihr Thron befand
sich irgendwo in der unbekannten Tiefe des Universums.
Aber sie konnte und wollte wiederkommen. Diese Androhung hatte sie
dem Menschengeschlecht hinterlassen.
Für Brenda Millan war dies keine Androhung. Sie hatte
längst erkannt, daß mit den Mächten der Finsternis
Pakte zu schließen waren, wenn von menschlicher Seite die
erklärte Absicht dazu bestand.
Daß dies nicht ohne Gefahr vonstatten ging, wußte sie
ebenfalls.
Bei Anrufungen und Beschwörungen, ja, schon bei der
Beschäftigung mit den Texten oder Gegenständen, die
okkulten Praktiken dienten, konnte derjenige schweren geistigen und
körperlichen Schaden davontragen.
Der Gedanke setzte sich ganz plötzlich in ihr
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