Töchter des Schweigens
keine von uns je gesehen hatte. Kannst du dir das vorstellen? Sechs Frauen mittleren Alters, ziemlich betrunken, sehen diese Bilder in Gegenwart einer Fremden. Ich werde es dir genauer schildern, sobald ich mich beruhigt habe.
Wenn ich diese Nacht überstehe, werde ich wohl den Mut finden, das zu tun, was getan werden muss.
Ich bin für Mittwoch mit Rita verabredet. Wir fallen in die alten Gewohnheiten zurück. Ich werde mich bei ihr aussprechen. Ich werde ihr erzählen, was ich seit damals keinem Menschen erzählt habe, und dann sehen wir weiter.
Wünsch mir Glück!
»Das war die letzte Mail, die sie in ihrem Leben geschrieben hat«, sagte Gerardo und starrte auf das Blatt. »Ich werde den Mut finden, das zu tun, was getan werden muss« , wiederholte er leise. »Dort liegt der Hund begraben, davon bin ich überzeugt. Was hatte Lena vor, und wer hatte etwas dagegen, dass sie es tat?«
David nickte stumm und zuckte mit den Schultern.
»Ich werde alles daransetzen zu erfahren, was auf dieser vermaledeiten Party vorgefallen ist, das verspreche ich dir. Aber zuerst brauchen wir die Bilder und den Film.«
»Die liegen eventuell noch bei uns zu Hause. Ich frage Ana.«
»Gleich heute Abend.«
»Wenn sie da sind, hast du sie morgen.«
1974
Die Mädchen haben den ganzen Tag am Strand und am Pool verbracht, und auch wenn es dem Direktor nicht behagte, dass sie lieber im Hotel bleiben wollten, statt mit den anderen zusammen einen Ausflug zu machen, hat Doña Marisa ihn überzeugen können, dass sie doch dumm wären, sich die Gelegenheit zum Schwimmen und Sonnenbaden entgehen zu lassen, wenn sie nun schon einmal auf Mallorca und in einem solchen Hotelkomplex sind.
Jetzt warten die beiden Lehrer darauf, dass alle aus ihren Zimmern kommen, um in den Minibus zu steigen und nach Palma zu fahren, wo sie mit der Jungengruppe verabredet sind, um eine der großen Diskotheken zu besuchen.
»Eine gelungene Klassenfahrt, nicht wahr?« Marisa lässt die Eiswürfel in ihrer Coca-Cola klingeln und schenkt ihrem Kollegen ein prachtvolles Lächeln, das im Kontrast zu ihrem gebräunten Gesicht noch weißer leuchtet als gewöhnlich. Javier hat sie noch nie so hübsch und so strahlend gesehen.
»Ja. Offen gestanden, ist es ewig her, dass ich einen ganzen Tag faul herumgelegen habe ohne ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht arbeite. Aber ich habe beschlossen, es zu genießen, so lange ich kann. Wer weiß, wohin sie mich nächsten Monat schicken!«
»Ist das mit deiner Versetzung denn sicher?«
»Es ist sicher, seit Monsignore Uribe festgestellt hat, dass mir der Umgang mit Jugendlichen nicht zuträglich ist.«
»Was heißt nicht zuträglich?«
»Seiner Meinung nach habe ich mich von ihrem Gerede über Freiheit und Freizügigkeit anstecken lassen … von allem, was er nicht für richtig hält.«
»Und du? Was hältst du davon?«
Javier zuckt mit den Schultern und lässt den Blick über Marisas Schulter hinweg durch den Garten schweifen. Er will jetzt weder an Don Alonso noch an die Versetzung noch an die wochenlangen Exerzitien denken, die ihn in den Pyrenäen unter vorsintflutlichen Priestern und stillen Nönnchen erwarten, aber sie will eine Antwort hören.
»Ich zähle nicht.«
»Das finde ich ungerecht.«
»Ich auch, aber ich habe Gehorsam gelobt, wie du weißt. Das ist wie beim Militär, nehme ich an. Einem Befehl kann man sich nicht widersetzen.«
Marisa legt ihre Hand auf Javiers Hand.
»Und wenn du es aufgibst, Javi?« Sie haben am Abend zuvor ganz theoretisch darüber gesprochen, aber was in den frühen Morgenstunden, als sie im Garten gesessen und aufs Meer geschaut haben, eine Option zu sein schien, ist jetzt im Licht der Sonne nichts weiter als der Traum einer Sommernacht.
»Und was mache ich dann, Marisa?«
»Du könntest weiter an Gymnasien arbeiten wie jetzt und beispielsweise Philosophie unterrichten.«
»Das würden sie niemals zulassen. Wer stellt schon einen abtrünnigen Geistlichen ein? Und ich kann sonst nichts. Komm, wechseln wir das Thema, sie sind da.«
»Aber nachher reden wir weiter.«
»Was soll das? Es macht dir wohl Freude, einen Priester auf Abwege zu bringen!« Er sagt es lächelnd und in scherzhaftem Ton, aber Marisa wird ernst.
»Es macht mir Freude, einen Freund zu ermutigen, sein Leben nicht zu vergeuden.« Sie erhebt sich, lässt die halb leere Cola stehen und geht ihren Schülerinnen entgegen, die lachend auf sie zukommen, schick angezogen und geschminkt, mit frisch gewaschenen
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