Töchter des Schweigens
nicht doch, wie soll ich denn tanzen?«
»Na, mit den beiden Füßen, die dir Gott gegeben hat, und weil wir ja schließlich in einer Diskothek sind. Auf geht’s!«
Noch unter Protest, aber schon lächelnd, lässt er sich wegzerren, und als er in der Mitte der Tanzfläche unter den farbigen Lichtern angelangt ist, erklingt Sacramento von Middle of the Road, und die Mädchen fangen an zu kreischen und zu hüpfen und reißen ihn schließlich mit. Nach kurzer Zeit ist er schweißgebadet, fühlt sich aber so frei und glücklich wie in den letzten fünf Jahren nicht.
Dann verändert sich das Licht, ein langsames Lied beginnt, und widerwillig tritt er den Rückzug zum Tresen an. Marisas Hand hält ihn auf.
»Oh nein! Kommt nicht infrage. Wirst du mich denn nicht zum Tanzen auffordern wie ein Kavalier?«
Alle Mädchen haben sich mit hochgewachsenen, sonnenverbrannten Ausländern zu Paaren zusammengefunden. Marisas Haar ist feucht, und sie lächelt ihn an.
»Aber ich kann doch gar nicht tanzen …«, wehrt er sich schwach.
»Ich führe dich.«
Javier fasst sie um die Taille, und sie legt die Arme um seinen Hals, wobei sie ganz leise das Lied mitsingt: » Nights in white satin .«
Noch nie ist er einer Frau, die nicht zu seiner Familie gehört, so nah gewesen. Sie riecht leicht nach Kokosöl und auch nach etwas Frischem, Grünem, wahrscheinlich ihrem Parfüm, das ihm nie aufgefallen ist. Er bemüht sich, die Hände still zu halten und ein wenig Abstand zu wahren, damit sie seine Erektion nicht bemerkt. Er weiß, er sollte sie unter irgendeinem Vorwand loslassen und wieder an die Theke flüchten oder eine Weile hinausgehen, um frische Luft zu schöpfen, aber er weiß auch, wenn er jetzt wegläuft, wird er es monatelang, wenn nicht jahrelang bereuen, weil er dann in dem Kaff, in das sie ihn schicken werden, beim Zubettgehen nicht einmal die Erinnerung an diesen Moment haben wird. Also gibt er sich der Melodie hin, schließt die Augen und lässt zu, dass sie dichter an ihn heranrückt, bis er ihre Brüste an seinem Körper spürt und ihn ein Schauder überrieselt.
»Ich liebe dieses Lied«, raunt sie. Er sagt nichts, legt seine Hände aber so, dass sie nun den rückwärtigen Teil ihrer runden, festen Hüften umfassen. Er spürt das Gummiband ihrer Unterwäsche und muss sich zusammenreißen, um nicht auf Entdeckungsreise zu gehen und all die Wunder zu erforschen, die er in unmittelbarer Reichweite hat. Sie streichelt ihm kurz den Nacken und löst sich dann plötzlich von ihm.
»Komm, gehen wir einen Moment an die frische Luft«, sagt sie, nimmt ihn bei der Hand und zieht ihn hinter sich her.
»Aber … aber … die Mädchen …«
»Die werden schon nicht aufgefressen. Außerdem sind Telmo und Loles ja auch noch da. Los!«
Die Luft im Freien ist köstlich nach der Hitze und dem Qualm in der Diskothek. Sie gehen ein paar Schritte bis zum Geländer einer kleinen Grünanlage, die sich bis hinunter zum Strand zieht, steigen die Steinstufen hinab und biegen in einen Pfad aus weißem Kies ein, vorbei an Pärchen, die sich in dunklen Ecken küssen, und Jugendlichen, die sich in die Blumenbeete übergeben. Javier hätte sie gern bei der Hand genommen, aber er weiß, dass sich das nicht gehört, und wagt es nicht. Sie hat den Kopf in den Nacken gelegt und atmet beim Gehen tief durch, dann bleibt sie unter einem riesigen Gummibaum stehen, kramt in ihrer Handtasche, holt ein Päckchen Zigaretten heraus, zündet zwei auf einmal an und reicht ihm schweigend eine.
»Marisa«, sagt Javier sehr leise, obwohl niemand in ihrer Nähe ist, »habe ich etwas falsch gemacht? Was ist los?«
Sie blickt ihn an, und in ihren Augen glimmt ein belustigter Funke. Sie stellt sich auf die Zehenspitzen, umfasst sein Gesicht mit beiden Händen und gibt ihm einen festen Kuss auf die geschlossenen Lippen.
»Ach, Javi! Du gefällst mir wahnsinnig, das ist los. Du gefällst mir schon seit zwei Jahren, solange ich dich kenne. Warum, glaubst du wohl, wollte ich mich versetzen lassen? Elda ist nicht übel, es lebt sich ganz gut da, und es gibt alles. Ich kann mir durchaus vorstellen, dort zu bleiben, aber du bist Priester, und das macht die Sache ziemlich kompliziert, meinst du nicht?«
»Ich?«, stottert er. »Ich gefalle dir?«
»Junge, bist du begriffsstutzig! Natürlich gefällst du mir. Und wie! Und ich dir?«
Eine so schwierige Frage hat ihm noch nie jemand gestellt, nicht einmal Ana, denn die Antwort ist zwar leicht, aber er weiß nicht, ob
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