Töchter des Schweigens
nachdem sie jedem, der es hören wollte, gesagt hat, sie sei sehr müde und müsse noch ihren Koffer packen. Sie weiß ganz genau, dass niemand sie vermissen wird, fand es jedoch wichtig, den Schein zu wahren. Mati war zum Glück damit beschäftigt, auf den geeigneten Moment für ein Gespräch mit Sole zu lauern, die sie den ganzen Abend nicht aus den Augen gelassen hat, ohne Reme auch nur eines Blickes zu würdigen, was bedeuten kann, dass Mati von ihren Zusammenkünften mit dem Schweden die ganze Woche über nichts mitbekommen hat. Oder aber, dass sie fettere Beute wittert.
Kurz darauf – in ihrem Zimmer, im Dunkeln, die Tür zum Garten weit offen, um die Meeresbrise hereinzulassen – macht ihr Herz einen Sprung, als sie Olafs leises Klopfen hört, das verabredete Zeichen, das sich Nacht für Nacht wiederholt hat.
Es ist wahr, dass sie müde ist, sie hat die ganze Woche lang fast nur im Bus geschlafen, aber beim Gedanken an das, was sie erwartet, bringt die Erregung ihr Blut in Wallung.
Er hat ihr für diese letzte Nacht ein ganz besonderes Spiel versprochen, etwas richtig Erwachsenes, ihr aber nichts Näheres verraten wollen. Möglicherweise konnte er es auch nur nicht auf Englisch erklären, wie es ihr so oft erging. Man hat sie so nützliche Dinge gelehrt wie »my tailor is rich« , aber kein Lehrer hat sich je die Mühe gemacht, ihnen einen Mindestwortschatz für die Verständigung im Bett beizubringen.
Leise, lächelnd, bepackt mit einer Reisetasche und einem Rucksack, kommt Olaf herein. Er ist schon an der Rezeption gewesen und hat die Rechnung beglichen, denn sein Flug nach Göteborg geht früh um sieben, und er will am Morgen nicht hetzen müssen.
Während ihre Schulkameraden in der Diskothek tanzen, Julia und Nieves ihre Sachen packen und zu Bett gehen, Mati Sole ein sieben Jahre altes Foto präsentiert, Javier und Marisa am Strand entlang zum Leuchtturm schlendern, César seine Traumfrau findet, Magda bitterlich an Anas Schulter weint, Manolo überlegt, ob er mit der Schwedin aufs Zimmer gehen oder sein Glück doch lieber bei Carmen versuchen soll, die ihm feurige Blicke zuwirft, Marga und Candela mit dem Wunsch ringen, sich zurückzuziehen, um die kürzlich entdeckten Gefühle noch einmal zu erleben, Tere sich einer Knutscherei hingibt, die ihr völlig einerlei ist und nur taugt, um zu vergessen, was sie bei ihrer Heimkehr erwartet, der Direktor und seine Frau sich an einem der Gartentische mit gegenseitigen Vorwürfen quälen, zieht Reme sich aus, legt sich mit ausgebreiteten Armen und gespreizten Beinen aufs Bett und lässt sich knebeln.
Olaf, der jetzt einen schwarzen Lederslip mit Ketten trägt, hockt neben dem Bett und sucht eine Stelle zum Festbinden der Schnüre, mit denen Remes Knöchel gefesselt sind. Dann legt er ihr Handschellen an, die er um die Pfosten am Kopfende des Bettes zuschnappen lässt, verbindet ihr mit einem beschwichtigenden Lächeln die Augen mit einem Seidentuch und raunt: »It’s just a game, honey, you’re a big girl now, you’ll love it.«
2007
Sole stand so spät auf, wie sie es nie für möglich gehalten hätte, als sie aus der Küche Geschirrklappern hörte. Seit Jahren hatte sie nicht so gut geschlafen. Sie fühlte sich ausgeruht, erholt, leicht, fast wieder Kind.
Da sie wusste, dass Carmen allein lebte, ging sie aus dem Zimmer, wie sie war, im Nachthemd, ohne den Seidenkimono, der sie auf allen Reisen begleitete, und wanderte durch das Haus zur Küche, erstaunt über den guten Geschmack ihrer Freundin, die sie immer für ein wenig ordinär gehalten hatte.
Sie fand sie in dem kleinen Garten hinter dem Reihenhaus unter einem weißen Sonnenschirm, wo sie in einer Einrichtungszeitschrift blätterte und aus einem hohen Glas eine orangefarbene Flüssigkeit trank.
»Hast du Lust auf einen Grog?«, fragte Carmen, als Sole im Türrahmen erschien.
»Das ist ein Grog?«
»Mehr oder weniger. Mein eigenes Rezept. Frischer Orangensaft, Zucker, ein Eigelb und ein Schuss Rum, um die Kehle zu reinigen. Etwa siebentausend Kalorien, aber ich esse ja nichts dazu …«
»Ich möchte den Orangensaft lieber pur.«
»Ohne einen Schuss Rum?«
»Ich bin Alkoholikerin, Carmen.«
Ihre Freundin starrte sie entgeistert an.
»Aber gestern hast du doch nur Mineralwasser getrunken.«
»Eben. Weil ich Alkoholikerin bin.«
»Gewesen bist, meinst du.«
»Alkoholiker ist man nie gewesen. Wenn du es einmal bist, bist du es für immer. Aber ich trinke nicht mehr.«
Carmen rutschte
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