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Töchter des Schweigens

Töchter des Schweigens

Titel: Töchter des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elia Barceló
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unbehaglich auf ihrem Gartenstuhl hin und her. So eng war sie mit Sole doch nie befreundet gewesen, und jetzt rückte die nach dreißig Jahren plötzlich völlig unbefangen mit etwas so Persönlichem heraus. Sie hatte ihr angeboten, bei ihr zu schlafen, weil Sole nicht bei ihrer Mutter übernachten wollte und sie nach einem guten Hotel gefragt hatte.
    »Das ist keine Schande«, fuhr Sole fort und nahm sich Orangensaft aus dem Krug. »Es ist, als hätte ich … was weiß ich … Brustkrebs gehabt.«
    »Ist das lange her?«
    »Bald fünf Jahre. Ich wäre beinahe gestorben, Carmen. Ich hatte jegliche Kontrolle verloren. Und meine Würde, mein Selbstwertgefühl und alles, was dir sonst noch einfällt.«
    »Und jetzt geht es dir gut?«
    »Was den Alkohol betrifft, ja. Im Übrigen …«
    »Willst du es mir erzählen?«
    »Nein. Ehrlich gesagt, möchte ich weder dir noch mir den Tag versauen. Ich habe geschlafen wie ein Baby und fühle mich wie seit Jahren nicht. Ich wusste schon gar nicht mehr, wie das ist, aufzuwachen und sich wohlzufühlen. Ohne Kopfschmerzen, ohne Beklemmungszustände, ohne diese Angst, als müsste jeden Augenblick eine Katastrophe hereinbrechen, ohne dieses Gefühl der Sinnlosigkeit … Ich habe mein Leben lang eine Depression nach der anderen gehabt, eine Therapie nach der anderen gemacht. Zwanzig Jahre war ich nicht in meinem Heimatort, außer zur Beerdigung meines Vaters, und jetzt bin ich hier, sehe euch wieder, habe in deinem Haus geschlafen und fühle mich schlagartig wie neu geboren. Ich kann es mir nicht erklären, aber eigentlich ist mir auch egal, woran es liegt.« Sie leerte das Glas in einem Zug und schenkte sich nach. »Ich hätte auch hierbleiben sollen, wie ihr alle.«
    »Sag das nicht, Sole, das hier ist auch kein Zuckerlecken. Ich bin geblieben, und wie du siehst …«
    »Du machst nicht den Eindruck, als ob es dir allzu schlecht ergangen wäre.«
    »Meinst du deswegen?« Carmens Handbewegung umfasste das Haus, den Garten und die Garage. »Unwichtiges Zeug.« Mit dem Zeigefinger der Rechten zählte sie die Finger der Linken ab. »Zwei Scheidungen, zwei Töchter, die sich einen Dreck um mich scheren, eine Mutter, die nur an sich selbst denkt, außer wenn sie etwas von mir will, ein Laden, der zwar gut läuft, aber nicht das ist, was ich mir als junges Mädchen für meine späteren Jahre erträumt habe, ein verheirateter Liebhaber, das werden dir die anderen schon erzählt haben, der zum Glück nicht daran denkt, seine Frau zu verlassen, zwei Liter Alkohol am Tag … was du sicher auch schon bemerkt hast. Keine Zukunftspläne, keine Hoffnungen, keine Träume. Punkt.«
    Dabei war ihre Mimik so drollig, dass Sole trotz der Bitterkeit ihrer Worte lächeln musste.
    »Ich habe dir voraus, dass ich trocken bin, und du hast mir den Liebhaber voraus. In allem anderen könnten wir Zwillingsschwestern sein.«
    »Sag bloß!«
    »Ich bin auch nicht das, was ich mit achtzehn werden wollte, meine Kinder kümmern sich auch nicht um mich, ebenso wenig wie meine Mutter und mein Mann. Er ist derjenige, der eine Affäre hat, und mir ist es vollkommen gleich. Ich habe ein wunderschönes Haus in Madrid, in dem ich mich nie aufhalte, einen Schrank voll Designerklamotten, zig Paar Markenschuhe, Handtaschen, um einen fliegenden Händler zehn Jahre lang zu versorgen, und eine immense Leere irgendwo in diesem von Hungerkuren, Massagen und Behandlungen ausgelaugten Körper. Aber weißt du was? Gestern Abend habe ich beschlossen, dass ich es leid bin und jetzt Schluss damit ist.«
    »Filmreife Story, Schätzchen!« Carmen goss etwas Rum in ihr Glas und spülte die Orangenreste in einem Zug hinunter. »Sag mal, glaubst du wirklich, wir könnten in unserem Alter noch mal neu anfangen? Bist du immer noch so naiv?«
    »Naiv« ist eines dieser Worte, die Sole immer durch und durch gehen. Ihr ganzes Leben bekommt sie es schon zu hören, es sei denn, es wird in Situationen besonderer Anspannung durch »schwachsinnig« ersetzt. Aber diesmal will sie nicht reagieren wie sonst. »Wenn du zu neuen Ergebnissen gelangen willst, darfst du nicht immer dasselbe machen«, wie Einstein sagte, also entscheidet sie sich für etwas Neues und fragt rundheraus: »Wie viel Geld hast du, Carmen?«
    »Und was geht dich das an?«
    »Hunderttausend Euro?«
    »Ja. Und mehr. Warum?«
    »Weil du dir dann einen vollständigen Entzug leisten kannst, das wäre das Erste. Und hinterher könntest du für eine Weile zu mir nach Kuba kommen, und

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