Töchter des Schweigens
heruntergetragen, der zu lange auf dem Balkon in der Sonne gestanden hatte und schon tropfte.
Sie fuhr sich mit der Hand über den Nacken und stellte fest, dass er feucht war. Die Hitze, vermutete sie. Und noch etwas. Die Erinnerung an jenen sechsten September. Sie wusste, dass es der sechste September war, denn als Lena, die damals noch Magda hieß, bei ihr anrief, hatte sie geduscht und wollte gerade anfangen, sich zurechtzumachen, um mit den Mädels etwas trinken zu gehen und sich das Feuerwerk anzusehen, mit dem das Stadtfest eröffnet wurde.
Als sie die Wohnung ihrer Freundin erreichte, mit nassen Haaren, in Jeans und T-Shirt, fand sie die Tür offen und eine Blutspur auf ebendieser Treppe. Magda war hinuntergelaufen, um ihr die Haustür zu öffnen, wobei sie sich die Handgelenke hielt, die sie sich mit einer Rasierklinge aufgeschlitzt hatte, und saß schluchzend auf dem Absatz vor ihrer Wohnung.
Nie hatte sie dieses Bild vergessen können. Magda, weinend, weiß wie die Wand, an der sie lehnte, in einem geblümten Nachthemd, das schon ziemlich alt gewesen sein musste, weil die Blümchen schon verblasst waren, und überall Blut. Rot in ihrem Schoß, dunkler um sie herum.
Vage erinnerte Rita sich an alles andere, das Telefon, den Rettungswagen, die Musik verschiedener Kapellen, die sie hörten, während sie mit Vollgas durch den Ort brausten, ohne durch die Milchglasscheiben irgendetwas zu sehen.
Sie hatte es nie jemandem erzählt. Magda hatte sie unter Tränen angefleht, es keinem zu sagen, und Rita hatte sich eine plausible Erklärung einfallen lassen, wie so oft. Im Erfinden glaubhafter Lügen war sie schon immer gut gewesen.
Sie schüttelte den Kopf, als wären diese Bilder lästige Moskitos. Das alles lag fast dreiunddreißig Jahre zurück. Vor zwei Wochen, als sie ihre Jugendfreundin Lena zum ersten Mal wiedergesehen hatte – dachte sie und schmunzelte, weil sie zufällig beide beschlossen hatten, ihren Namen zu ändern und künftig nur noch die zweite Hälfte zu verwenden: Magda-Lena, Marga-Rita –, hatte sie an ihren Handgelenken die Narben von damals gesucht und kaum eine feine perlmuttfarbene Linie entdecken können, die von allem Möglichen herrühren mochte. Lena hatte ihren Blick jedoch bemerkt, gelächelt und sich abgewandt.
Was wollte Lena ihr nun sagen? Wollte sie ihr tatsächlich erzählen, wie bei ihrer Einladung angedeutet, was sie über jene Nacht auf dem Schiff wusste? Und sie selbst? Wollte sie es nach all der Zeit überhaupt noch wissen?
Einen Moment lang fühlte sie sich versucht umzukehren, Lena anzurufen und zu sagen, ihr sei etwas Unvorhergesehenes dazwischengekommen und sie könne ihre Verabredung nicht einhalten, aber sie wusste, dass das feige und dumm wäre. Also stieg sie in den ersten Stock hinauf, denn mittlerweile war es sieben Minuten nach acht, spät genug, dachte sie, um nicht mit ihrer britischen Pünktlichkeit aufgezogen zu werden, wie es ihr sogar in London ständig erging.
Es war die linke Tür. Hinter der rechten hatte vor vielen Jahren Ritas längst verstorbene Großmutter gewohnt, die damals eine leutselige, lebhafte Frau gewesen war.
Als sie auf die Klingel drücken wollte, stellte sie fest, dass die Tür nur angelehnt war. Anscheinend war Lenas Vertrauen in die Nachbarschaft so groß, dass sie die Tür offen ließ, wenn sie Besuch erwartete.
Trotzdem klopfte Rita an und rief dazu mit lauter Stimme: »Lena! Ich bin’s, Rita. Entschuldige die Verspätung.«
Lena gab keine Antwort, und plötzlich krampfte sich Ritas Magen zu einem pulsierenden Klumpen zusammen.
Sicher ist sie in der Küche beschäftigt und hört mich nicht, sagte sie sich. Sie nahm die Flasche und die Blumen in die linke Hand und drückte behutsam gegen die Tür. Vom Ende des Flurs, wo früher das Wohnzimmer gewesen war, drangen sanfte Saxophonklänge. Die ganze Wohnung war vom rötlichen Schein der untergehenden Sonne erleuchtet, und die Schatten von Möbeln und Gegenständen, die Rita nicht sehen konnte, zeichneten sich an der weißen Wand zu ihrer Rechten ab und lagen auf Bildern und Büchern, die fast die gesamte Fläche einnahmen.
Irgendwo war ein hartnäckiger Tropfen zu hören, der aus einem nicht ganz zugedrehten Hahn in ein Spülbecken oder eine Badewanne voll Wasser fiel.
»Lena?«
Stille. Die Musik, der Tropfen und Stille.
Sie ging den rot erleuchteten Flur entlang, wobei sie das unsinnige Gefühl hatte, auf dem Weg zum Wohnzimmer von einer Kamera verfolgt zu werden. Die
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