Töchter des Schweigens
entdecken, aber überall sind nur Anoraks und Kapuzen und tief in die Stirn gezogene Mützen und graue Uniformen und Helme und Knüppel, als gäbe es in diesem Getümmel keine menschlichen Wesen mehr, sondern nur noch die Uniformen der einen und der anderen Seite.
Sie sieht eine Flut von Menschen die Straße hinauflaufen, hofft, in der Masse Schutz zu finden, schließt sich ihnen an und rennt verzweifelt weiter, während sie insgeheim dankbar ist, in einem Ort zu leben, dessen Park nicht von einem Eisengitter, sondern lediglich von einem kaum kniehohen Mäuerchen umgeben ist. Statt also weiter zu dem Tor zu fliehen, das hinaus zur Calle Martínez Anido führt, schlüpft sie hinter ein paar Büsche und hastet bergan auf die Inmaculada-Kirche zu.
Von der anderen Straßenseite aus beobachtet sie ein Polizist, und ihr scheint, als zögere er einen Augenblick und überlege, ob er sie verfolgen soll oder nicht, aber sie hetzt weiter, ohne sich umzublicken, und eine Minute später hat sie das Getöse hinter sich gelassen und hört nur noch das Geräusch ihrer Schuhe auf dem Pflaster. Die Straße ist verwaist, trotzdem biegt sie noch um mehrere Ecken, um eventuelle Verfolger abzuschütteln, obwohl sie weiß, dass sie allein ist, dass der Polizist es nicht für nötig gehalten hat, sich zu verausgaben, indem er einem Schulmädchen nachläuft.
Sie drückt sich in einen Hauseingang, um zu verschnaufen, weil sie vor lauter Seitenstechen kaum noch Luft bekommt. Dann reckt sie vorsichtig den Kopf, vergewissert sich, dass die Straße immer noch leer ist, stopft ihre Mütze in die Tasche und macht sich langsam auf den Weg zu Arturos Bar, die wie ein orangefarbener Stern am Ende der Straße leuchtet.
Wenige Minuten später sind sie alle dort, schweißgebadet, erschöpft von dem Wettlauf, glücklich. Niemand hat Blutergüsse, niemand ist festgenommen worden. Sie umarmen sich, den Tränen nahe, lächelnd, und spüren die Kraft, die von ihren verschwitzten Körpern ausgeht.
Im hinteren Teil des Lokals, unter dem Schwarzweißfoto einer brasilianischen Stadt, sitzt Mati neben Nieves, die auch aus Novelda ist, und blickt ihnen mit ihrem schiefen Grinsen entgegen. Sie hat einen Kugelschreiber in der Hand und führt auf ihrem Spiralblock eine Liste, unentwegt lächelnd und ohne einen Hehl daraus zu machen, was sie notiert: die Namen all derer, die sich an der Demonstration beteiligt haben.
Juni 2007
Teresa blickte sich in dem Büroraum um, in dem man sie gebeten hatte zu warten, und lächelte in sich hinein, weil sie sich vorstellte, was wohl ihr Vater sagen würde, wenn er sähe, unter welchen Bedingungen die Polizei heute arbeitete: in Büros, die mit Klimaanlage, Computern und funktionellem, aber intaktem Mobiliar ausgestattet und mit Zimmerpflanzen, Familienfotos und Reiseandenken aus exotischen Ländern dekoriert waren. Sie erinnerte sich noch lebhaft an die Kälte in dem Amtsstübchen, wo ihr Vater gearbeitet hatte, die Fenster, durch die eisige Luft hereinzog, die grässlichen grauen Aktenschränke mit den vergilbten Ordnern, die wurmstichigen Mammutschreibtische, die Tintenfässer und das rosa Löschpapier, die schwarzen Schreibmaschinen, bei denen jeder Buchstabe ein Schlag war. Für ihren Vater wäre diese ganze moderne Ausstattung »was für Weicheier«, das sich für seriöse, gewissenhafte Männer wie ihn nicht ziemte.
In diesem Moment kam Gerardo Machado herein, und Teresa stand auf, um ihn rechts und links auf die Wangen zu küssen. Sie kannten sich seit über zwanzig Jahren; seine Frau Lucía war ihre Patientin und zudem ihr erster Kaiserschnitt gewesen, weshalb sie sich auch sofort nach Samuel erkundigte, der mittlerweile an der Universität studierte.
»Gut, gut, wir können uns nicht beklagen«, antwortete Gerardo und setzte sich hinter seinen Schreibtisch. »Er wird keine Eins kriegen, aber voraussichtlich glatt bestehen, und Architektur ist ja nicht einfach.«
»Das freut mich, Gerardo. Heutzutage muss man wirklich drei Kreuze schlagen, wenn einem die Kinder keine Probleme machen.«
»Das kannst du laut sagen. Na los, nur ein paar Fragen, bringen wir’s schnell hinter uns.«
»Ich bin ganz Ohr.«
»Erzähl mir etwas über Rita Montero.«
Teresa lachte.
»Ihr Männer seid vielleicht klatschsüchtig! Dabei wird uns das doch immer nachgesagt.«
»Bitte, Teresa, sei ernst, ich werde es aufnehmen.«
»Gut. Was willst du wissen?«
»Leg einfach los. Wie sie früher war, wie sie heute ist, was dir so
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