Töchter des Schweigens
Generation von Duckmäusern, Marga, sie können nichts dafür, die Angst steckt ihnen in den Knochen. Denk nicht mehr dran.«
»Habt ihr Schuhe an, in denen ihr rennen könnt?«, fragt Tony. »Wenn wir getrennt werden, treffen wir uns nachher in Arturos Bar.«
Die Nacht ist kalt, dennoch hat die Atmosphäre etwas Aufgeheiztes. Es ist, als spränge jedes Mal ein elektrischer Funke über, wenn ihre Blicke sich mit denen anderer junger Leute kreuzen, die in dieselbe Richtung gehen, zur Plaza Castelar, wo sich alle bei der Statue des früheren Politikers treffen.
Auf der Treppe am Eingang des kleinen Parks warten César, Magda und zwei weitere Schulkameraden auf sie. Alle tragen Mützen bis über die Augenbrauen, und einige Demonstranten haben sogar die Kapuzen übers Gesicht gezogen, damit man sie nicht gleich erkennt, wenn die Polizei kreuz und quer in die Menge fotografiert.
Untergehakt marschieren sie inmitten anderer Gruppen, die in immer geschlosseneren Reihen zum Denkmal strömen. Dort gibt es weder Reden noch Kundgebungen; sie wollen nichts weiter, als sich dort versammeln, Transparente hochhalten, auf denen sie Amnestie für Puig Antich fordern, und geordnet zum Rathaus ziehen oder zumindest so weit, wie die Polizei es ihnen gestattet. Alle wissen, dass die Regierung mit gewohnter Brutalität einschreiten wird, damit niemand glaubt, sie sei am Ende, und deshalb ist es ihnen wichtig, ihren Unmut zum Ausdruck zu bringen, ihre Ablehnung staatlicher Gewalttätigkeit.
Kaum einer der Anwesenden hat schon einmal an einer öffentlichen Demonstration teilgenommen, obschon viele der Gymnasiasten Sitzstreiks veranstaltet haben, mit denen nie viel erreicht wurde. Und das Wissen, unter polizeilicher Beobachtung zu stehen, während die Beamten in ihren gepanzerten Autos auf was auch immer warten, ist zwar einschüchternd, löst aber auch eine angenehme Erregung aus, eine kribbelnde Angst, die ihnen das Gefühl gibt, Teil von etwas zu sein, für das sie nicht einmal einen Namen haben, etwas, das sich manchmal in den schlichten Begriff »Freiheit« fassen lässt.
»Falls wir uns aus den Augen verlieren, in Arturos Bar«, flüstert Ana ihren Gefährten zu.
Plötzlich steigt ein Mann auf den Sockel des Castelar-Denkmals und umreißt in wenigen Sätzen das Begehren der Demonstranten: Amnestie für Salvador Puig Antich zu verlangen und deutlich zu machen, dass das Volk nicht länger bereit ist, die kriminellen Übergriffe einer veralteten Regierung widerspruchslos hinzunehmen.
Hier und da erhebt sich eine Stimme über den Applaus, Rufe nach »Amnestie und Freiheit«, in die der Chor nach und nach einfällt, bis die beiden Worte zu einem einzigen Brüllen angeschwollen sind.
Ana, Marga und Magda gehen Arm in Arm und schauen sich ab und zu an, um ihre eigene Freude auch in den Augen der anderen zu erkennen, die Freude, auf einem öffentlichen Platz herauszuschreien, was sie bisher immer nur leise im Familienkreis oder in ihrem Zimmer ausgesprochen haben, wenn sie den Liedern von Joan Baez und Violeta Parra lauschten.
Der Park ist voller Menschen, nicht nur junge, auch viele ältere sind da, die die schreckliche Nachkriegszeit und die Unterdrückung durch die Franco-Diktatur am eigenen Leib erfahren haben und jetzt, umringt von der neuen Generation, wieder den Mut finden, für ihre Überzeugungen einzutreten.
Es ist ein magischer Moment, in dem sich alle, ihre Freundinnen und Schulkameraden und sogar die Unbekannten um sie herum, mit einem Mal verbunden fühlen, solidarisch, Teil eines so großen und starken Ganzen, dass es ihnen den Atem raubt und zugleich Flügel verleiht.
Dann schlägt die Polizei los.
Unversehens sind sie alle verstreut, laufen kopflos durch die kreischende Menge, versuchen, den Knüppeln auszuweichen, die von überallher auf sie niederregnen, springen über Demonstranten hinweg, die in die Blumenrabatten und auf die Treppen gestürzt sind, suchen einen Ausweg aus diesem Park, der ihnen allen seit ihrer Kindheit vertraut ist, wo sie auf den Steinbänken gesessen und tonnenweise Sonnenblumenkerne verspeist haben, und der jetzt zu einer Mausefalle geworden ist.
Beschimpfungen, Drohungen, Schmerzensschreie ertönen, und alle hasten, stolpern und rempeln, ohne einander zu erkennen. Marga versteckt sich für einen Moment hinter dem Stamm einer Pinie, um sich einen Überblick zu verschaffen, in welcher Richtung die Fluchtchancen am größten sind, oder zumindest ihren Bruder oder einen ihrer Freunde zu
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