Töchter des Schweigens
einfällt.«
Teresa schloss einen Moment die Augen, um sich Rita zu vergegenwärtigen, als sie noch Marga war.
»Rita war immer das, was man ein vernünftiges Mädchen nennt. Fleißig, mit Durchblick, wie wir damals sagten, sehr engagiert in allem.«
»Auch politisch?«
»Ja, ich glaube schon. Nicht so sehr wie Ana, aber auch.«
»Wenn sie an Demonstrationen und Sitzstreiks beteiligt war, sollten wir noch irgendwo die Berichte haben.«
»Habt ihr diesen Müll noch immer nicht weggeschmissen?«
Gerardo zuckte schmunzelnd mit den Schultern.
»Sie war Schulsprecherin, eine große Ehre und viel Arbeit, Redakteurin der Schülerzeitung, Organisatorin von Veranstaltungen …, alles Mögliche. Ein sehr kompetentes, sehr artiges Mädchen.«
»Und heute?«
»Woher soll ich das wissen? Ich habe sie eine Ewigkeit nicht gesehen, aber ich würde sagen, sie ist noch genauso, wenn auch …, ich weiß nicht …, stiller, gleichmütiger, nachdenklicher.«
»Ich glaube, das kapiere ich nicht.«
»Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Früher war sie wie Quecksilber, gab nie Ruhe, mischte sich überall ein, diskutierte jedes Thema mit Leidenschaft …, und jetzt spricht sie wenig, hört viel zu, lässt dich ausreden und versucht nicht, dich zu überzeugen, dass du falschliegst. Klar, damals war sie siebzehn, achtzehn, und heute ist sie fünfzig. Wie es scheint, hat das Leben sie viel gelehrt.«
»Ehrlich gesagt, habe ich mir eine solche Berühmtheit ganz anders vorgestellt.«
»Ja, man meint immer, der Erfolg müsse ihr zu Kopf gestiegen sein, aber nein. Manchmal hat man fast den Eindruck, sie entschuldige sich dafür, es im Filmgeschäft so weit gebracht zu haben.«
»Hältst du sie für fähig, jemanden umzubringen?«
Teresa starrte ihn an.
»Rita? Jemanden umbringen? Wen denn? Etwa Lena, diesen Goldschatz?«
»Zum Beispiel.«
»Nein. Niemals. Abgesehen davon, warum zum Teufel hätte sie sie umbringen sollen?«
»Wenn ich das wüsste, wäre ich ein gutes Stück weiter.« Er machte eine Pause. »Sag mal, Teresa, wer wusste eigentlich, dass Rita am Mittwoch bei Lena essen wollte?«
»Ich. Alle, glaube ich. Lena hat sie im Weggehen eingeladen, als sie sich auf der Party voneinander verabschiedet haben. Leise zwar, aber wir waren alle dabei.«
»Herrje, das hilft mir auch nicht viel.«
Teresa zuckte mit den Schultern.
»Warum ist sie vor euch gegangen?«
»Lena? Weil sie müde war. Sie hatte schon immer Probleme mit dem Eisengehalt im Blut und hielt nie lange durch.«
»Und auf dem Fest ist nichts vorgefallen, das sie irgendwie deprimiert haben könnte?«
Teresas Antwort ließ einige Sekunden auf sich warten. Sie konnte Gerardo, so nett und gutmütig er auch sein mochte, ja schlecht erzählen, was wirklich passiert war, von Ingrids fatalem Einfall mit dem Film und der Lawine von Erinnerungen, die diese Bilder ausgelöst hatten. Sie entschied sich für das Neutralste, für etwas, das Gerardo sofort nachprüfen konnte, sobald er mit David sprach, der wusste, dass Lena wie besessen auf der Suche nach Nick war.
»Keine Ahnung. Kann schon sein. Wir haben uns ziemlich lange über den Vater ihres Sohnes unterhalten«, log sie. »David wird dir sicher erzählt haben, dass sie seit Jahren nach ihm fahndet und ihn bis heute nicht gefunden hat.«
»Ja, er hat mir so was gesagt. Meinst du, das könnte ein Grund für einen Selbstmord gewesen sein?«
»Also habt ihr diese Möglichkeit doch noch nicht ganz ausgeschlossen.«
»Noch ermitteln wir in alle Richtungen. Was meinst du?«
»Nein, ehrlich gesagt, glaube ich das nicht. Vor fünfundzwanzig Jahren wäre ich mir da nicht so sicher gewesen, aber jetzt …, man kann halt nie wissen. Mancher hält sich eine Ewigkeit lang tapfer, bis irgendeine Bagatelle dann das Fass zum Überlaufen bringt.«
Gerardo bückte sich und nahm ein Blatt Papier aus der Schublade zu seiner Rechten.
»Lies dir das mal durch, und sag mir, was dir dazu einfällt.«
Es waren wenige gedruckte Zeilen, ohne Überschrift, ohne Unterschrift.
Geheimnisse zerstören den, der sie bewahrt, aber erst recht den, der sie vergisst, denn dann bleiben sie am Leben und verschlingen einen stumm in der Dunkelheit.
Glaubst du, ich könnte vergessen, nur weil ich es mir wünsche? Die Erinnerung ist die Strafe für den Verlust der Unschuld.
Was ich getan habe, was ich tun werde, ist nicht mehr von Bedeutung: Im Leben, im Traum, in schlaflosen Nächten bin ich nichts weiter als die nagende Erinnerung
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