Töchter des Schweigens
Rasen nach dem Kübel, in dem Juana ihr eine Flasche Mineralwasser bereitgestellt hatte und dessen Eis längst geschmolzen sein dürfte. Sie hasste es, auf etwas warten zu müssen, von etwas abhängig zu sein, das nicht in ihrer Hand lag. Sie hasste dieses Gefühl abgrundtief, obwohl sie ihr Leben lang nichts anderes getan hatte als zu warten, abhängig zu sein, ohne jemals eine wirklich eigene Entscheidung getroffen zu haben. Aber diesmal war es noch weit schlimmer, denn seit die Kinder aus dem Haus waren und Pedro sie links liegen ließ, stellte Lena eine Art Ventil für sie dar, ohne etwas dafür zu verlangen, einen Ausweg, der ihr ermöglichte, sich allmählich etwas zurückzuerobern, das die Pedanten, von denen sie nun schon so lange umgeben war, vermutlich Identität genannt hätten, und für das sie selbst, zumindest im Moment, noch gar keinen Begriff hatte. Dabei war ihr bewusst, dass mit ihrem damaligen Namen – Sole – auch alles andere wieder hochkam, das Gute und bedauerlicherweise auch das Schlechte, all jene Erinnerungen, die aus ihrem Gedächtnis zu löschen sie sich so angestrengt bemüht hatte, indem sie ein Fach studierte, das sie überhaupt nicht interessierte, einen Mann heiratete, mit dem sie immer weit weg von Spanien leben musste, und einen Namen annahm, mit dem sie sich nie hatte identifizieren können.
Und jetzt antwortete Lena ihr nicht. Das Letzte, was sie wusste, war, dass die Mädels eine Wiedersehensparty gefeiert hatten, bei der etwas vorgefallen sein musste, das Lena so erschüttert hatte, dass sie ihr nicht mehr schrieb, obwohl sie versprochen hatte, ihr alles zu erzählen. Ob sie sich schließlich mit Marga, die heute Rita hieß, getroffen hatte? Was hatte sie ihr wohl erzählen wollen? Was glaubte sie über die wahren Vorgänge in jener Nacht auf dem Schiff zu wissen? Hatte Lena etwa schon immer gewusst, wer Mati über die Reling gestoßen hatte? Und hatte dieses Geheimnis dreiunddreißig Jahre lang gehütet, weil es eine ihrer Freundinnen betraf, ein Mädchen aus der Clique vom 28sten? Mord verjährt nicht. Das wussten sie alle; und ohne es je ausgesprochen zu haben, wussten sie auch, dass sie alle sicherer waren – wie viel jede Einzelne auch wissen oder sogar gesehen haben mochte –, wenn keine von ihnen es jemals erwähnte. So hatten sie es seit 1974 gehalten. Und auf einmal, aus irgendeinem Grund, den sich Sole weder vorstellen konnte noch wollte, hatte Lena beschlossen, mit Marga zu sprechen und ihr … was zu erzählen?
»Rita, ist etwas passiert?«
Teresa hatte ihrer Freundin die Tür geöffnet und sah sie mit besorgter Miene an, während sie sie einließ und ins Wohnzimmer führte, wo bereits der Tisch gedeckt war. Irgendwo plärrte ein Fernseher in voller Lautstärke.
»Die Kinder bringen mich noch um den Verstand«, murmelte Teresa und schloss die Schiebetüren. »Diese jungen Leute sind alle taub. Sag, was ist los?«
Rita ließ sich auf eines der Sofas fallen und machte für einen Moment die Augen zu.
»Nichts, Tere, ich weiß nicht. Ich kann nicht mehr. Am liebsten würde ich von hier verschwinden, aber die Polizei hat es mir verboten. Ich weiß nicht, was sie gegen mich in der Hand haben, aber sie behandeln mich, als glaubten sie, dass ich Lena umgebracht habe. Ich wusste nicht, wohin, deshalb habe ich dich angerufen, weil ich mit jemandem reden muss. Kann sein, dass ich einen Anwalt brauche.«
»Ja, das denke ich auch.«
Rita sah sie konsterniert an.
»Ich weiß auch nicht, was sie glauben, gegen dich in der Hand zu haben, aber Ana hat mich gerade angerufen und gemeint, wir sollten uns an Candela wenden. Anscheinend haben sie tatsächlich vor, dich festzunehmen.«
»Das ist doch idiotisch«, sagte Rita kopfschüttelnd. »Warum ich, die ich eben erst hier angekommen bin und Lena seit dreiunddreißig Jahren nicht gesehen habe?«
»Lass uns Candela anrufen.« Teresa hatte das Telefon schon in der Hand.
»Nein. Warte, bitte, warte noch. Ich brauche einen Moment zum Nachdenken.«
»Mamaaa!« Eine Stimme überschrie den Fernseher. »Es riecht angebrannt!«
»Entschuldige, Rita, ich sehe mal nach, bin gleich wieder da.«
Rita blieb, wo sie war, den Kopf an die Sofalehne gelegt, die Augen geschlossen. Sie fühlte sich in die Enge getrieben, hilflos, lächerlich, wie in einem Albtraum, der Wirklichkeit geworden war, auch wenn diese Wirklichkeit mit ihrem täglichen Leben nichts zu tun hatte. Zwar hatte sie immer gedacht, dass man nicht in die
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