Töchter des Schweigens
Vergangenheit zurückkehren kann, und dennoch war ihr jetzt, als hätten diese dreiunddreißig Jahre nie existiert, als setzte sich das, was damals auf der Heimreise von Mallorca geschehen war, von dem Augenblick an fort, in dem es seinerzeit unterbrochen worden war, als wäre ihre Flucht, ihrer aller Flucht, nur ein Aufschub gewesen, und sie müssten jetzt alles das durchmachen, was sie glaubten, hinter sich gelassen zu haben.
Sie selbst hatte keine Kontrolle mehr über ihre Erinnerungen. Erst vorgestern Abend bei Candela hatte sie das Thema zur Sprache gebracht, weil ihr eine innere Stimme sagte, dass es notwendig war, zu reden, die Dinge zu klären, einen Reinigungsprozess in Gang zu setzen, der vielleicht schon gar nicht mehr möglich war.
Auf Candelas Terrasse mit Blick auf den Hafen und das erleuchtete Schloss, einen Gin-Tonic in der Hand, stellt sie die Frage selbst: »Was du da neulich auf der Party gesagt hast …, dass es eine von uns gewesen sein muss, die Mati ins Wasser geworfen hat …, weißt du das genau?«
Die Worte kommen nur mit Mühe aus ihrem Mund, als spräche sie in einer kürzlich erlernten Fremdsprache. Sie heftet den Blick auf die Schlossmauer, um nicht die Augen ihrer Freundin sehen zu müssen und vor allem nicht das zynische Lächeln, das zweifellos ihre feinen Lippen oberhalb des Glasrandes verzieht.
»Was meinst du mit ›genau‹? Ob ich es gesehen habe? Ob ich es war?« Jetzt bleibt ihr nichts anderes übrig, als Candela anzusehen. »Nein. Ich habe es weder gesehen, noch war ich es, obwohl ich manchmal gern den Mut gehabt hätte, es zu tun. Ich glaube, ich bin die Einzige, die damit hätte leben können. Warte, ich werde dir etwas zeigen, damit du mich verstehst.«
Candela verschwindet im Inneren der Wohnung, und Rita bleibt auf der Terrasse und streichelt blind die Geranien, die bei der Berührung so stark duften, dass ihr fast schwindlig wird. Vielleicht hat Candela ja recht. Vielleicht ist sie die Stärkste der sieben. Sie ist auch die Einzige, die sich eine Wohnung am Meer gekauft hat, die Einzige außer Carmen, die das Meer anscheinend nicht als Matis Grab betrachtet. Aber Carmen ist eben ein Spatzenhirn.
Jetzt kommt Candela zurück und hält Rita ein schwarzes Ringbuch hin, das undeutliche Erinnerungen in ihr wachruft. Mit ihrer weißen Tunika und der ausgestreckten Hand sieht Candela aus wie eine Zauberin aus einem Fantasy-Film, eine möglicherweise böse Zauberin, die ein vergiftetes Geschenk überreicht.
Unwillkürlich steckt Rita die freie Hand in die Tasche, statt es entgegenzunehmen.
»Was ist das?«
Candela lacht. Ein kurzes, trockenes Auflachen, wie ein Bellen.
»Matis berühmtes Heft. Erinnerst du dich nicht mehr, dass sie uns immerzu aus dem Augenwinkel beobachtete und Notizen in ein schwarzes Büchlein schrieb? Das ist es.«
»Und wie kommst du dazu?«
Candela knallt das Buch auf den Tisch, greift wieder nach ihrem Glas und lässt sich im Schaukelstuhl nieder.
»Das Leben ist voller Überraschungen. Aber ich dachte eigentlich, diese Geschichte sei tabu, meine Liebe. Ich bin davon ausgegangen, dass wir uns einen netten Abend machen, über uns reden und auf die alten Zeiten trinken wollen. Fragst du, weil du morgen Abend mit Lena essen wirst und gewappnet sein willst für das, was sie dir offenbaren könnte?«
Rita nickt stumm. Ihr war nicht bewusst, worauf sie hinauswollte, doch nachdem Candela es jetzt ausgesprochen hat, wird ihr klar, dass genau das der Grund ist.
»Nimm einmal an«, fährt Candela fort, »die gute Lena sagt dir morgen, sie habe mit eigenen Augen gesehen, wie eine von uns Mati ins Wasser geworfen oder ihr ein Messer in den Leib gerammt oder sie erdrosselt hat …«
Rita hat das Gefühl, neben sich zu stehen, und bemerkt, dass ihre Hand zittert, weil die Eiswürfel in ihrem Glas angefangen haben zu klirren.
»In Wahrheit weiß niemand, wie Mati gestorben ist. Wir wissen lediglich, dass sie bei der Ankunft im Hafen nicht auf dem Schiff war und nie gefunden wurde.« Candela spricht in so neutralem Ton, dass es Rita die Kehle zuschnürt, weil niemand in dieser Form über ein siebzehnjähriges Mädchen sprechen sollte, das von seinen Mitschülerinnen ermordet wurde. »Stell dir vor, Lena hat es gesehen und das Geheimnis ihr Leben lang bewahrt, hält es aber jetzt plötzlich nicht mehr aus und sagt es dir. Dir. Der heiligen Margarita, Schutzpatronin der Geheimnisse.
Was willst du dann tun? Die Schuldige anzeigen?«
Rita wendet sich ab
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