Töchter des Schweigens
Bombensicheres.«
»Dann sage ich ihr also, dass sie sich wieder frei bewegen kann?«
»Nein. Noch nicht. Sollen sie ruhig glauben, wir seien noch dran. Vielleicht haben wir Glück, und jemand bekommt kalte Füße. Du kannst ja mal ganz nebenbei die Rothmans-Kippe erwähnen und dass wir sie eindeutig zuordnen können, mal sehen, was passiert.«
»Mach ich. Sofort nach der Beerdigung komme ich wieder.«
Um zwanzig nach zehn läutete Sole zum ersten Mal seit über zwölf Jahren wieder an der Tür ihres Elternhauses und spürte so etwas wie einen elektrischen Schlag im ganzen Körper.
»Ich komme nicht rauf, Mama«, sagte sie durch die Gegensprechanlage. »Wenn du dich nicht beeilst, schaffen wir es nicht mehr rechtzeitig.«
»Immer diese Hetze, immer diese Hetze«, hörte sie ihre Mutter maulen, ehe sie den Hörer einhängte.
Sie lehnte sich gegen das Gartentor und ließ den Blick über die neuen Gebäude schweifen, die rund um das Häuschen entstanden waren, sodass sich dieses dank einer Laune der Stadtplaner nun praktisch mitten im Ort befand. Zum Glück weckte nichts davon Erinnerungen in ihr.
Sie zündete eine Zigarette an und fand sich damit ab, dass sie auf ihre Mutter warten musste, die schon immer der Meinung gewesen war, dass Eile sich für eine Dame nicht schickte, aus keinem noch so wichtigen Anlass.
»Du rauchst ja immer noch«, sagte ihre Mutter zur Begrüßung, noch bevor sie ihr einen Kuss gab. »Weißt du denn nicht, dass man daran stirbt?«
»Am Nichtrauchen auch«, gab sie mechanisch zurück. »Oder glaubst du, du wirst ewig leben, bloß weil du nicht rauchst?«
»Aber ich werde nicht an Lungenkrebs sterben.«
»Dann eben an etwas anderem. Na los, steig ein, wir kommen zu spät.«
»Hier sind die Entfernungen kurz. Wir haben reichlich Zeit. Wir könnten unterwegs sogar noch einen Kaffee trinken, denn in diesem Leichenschauhaus trinke ich nicht mal einen Schluck Wasser. Ich finde es irgendwie gruselig, dass es dort drinnen eine Bar gibt, bei all den aufgebahrten Toten. Wo fährst du denn hin?«
»Geht es nicht hier lang?«
»Aber nein. Bieg die nächste rechts ab, und fahr dann geradeaus, bis ich dir Bescheid sage. Wenn du öfter hier wärst …«
»Wenn ich öfter hier wäre, kämst du weniger raus. Wer hätte vor dreißig Jahren geglaubt, dass du mal nach Singapur und Manila und Peking reisen würdest?«
»Was ist mir denn übrig geblieben? Wenn ich nicht zu dir gekommen wäre …, du hierher? Nicht im Traum.«
Sole zuckte mit den Schultern. Es hatte keinen Sinn, mit der gleichen Geschichte immer wieder von vorn anzufangen.
»Willst du etwa so zur Beerdigung? In Weiß und ohne Ärmel?« Die Mutter musterte sie tadelnd und verglich ihr dunkelblaues Kostüm und die getupfte cremefarbene Seidenbluse mit dem schlichten naturweißen Leinenkleid ihrer Tochter.
»Wir haben fünfunddreißig Grad, Mama. Und ich habe ein schwarzes Jäckchen dabei, falls es eine Klimaanlage gibt.«
»Wieso hast du dich aufgerafft, zu Magdas Beerdigung zu kommen, nachdem du seit dem Tod deines Vaters, möge er in Frieden ruhen, keinen Fuß in diesen Ort gesetzt hast, und das ist bald zwölf Jahre her?«
»Sie war eine meiner besten Jugendfreundinnen, Mama, das weißt du doch.«
»Onkel Ismael war dein leiblicher Onkel. Und bei seiner Beerdigung warst du nicht da.«
»Nein. War ich nicht.«
Sole umklammert das Lenkrad, bis ihre Knöchel weiß werden. Als sie an einer roten Ampel halten muss, steckt sie sich eine weitere Zigarette an, obwohl sie für gewöhnlich höchstens sechs oder sieben am Tag raucht.
»Alle haben nach dir gefragt, weißt du? Und ich stand dumm da und musste Erklärungen abgeben, an die ich selbst nicht glaubte. Das hat mich sehr gekränkt, Marisol«, sagt die Mutter schmollend. »Mein einziger Bruder.«
»Tja.«
»Drei Tage vor seinem dreiundachtzigsten Geburtstag. Ein Gottesmann. Ein Heiliger. Du hättest die Beisetzung in Orihuela erleben sollen, eine Messe, zelebriert vom Bischof persönlich und zehn Priestern, der Chor, die reinsten Engelsstimmen, alles voller Blumen. Eine wahre Pracht.« Sie bekreuzigt sich und zieht ein Tüchlein aus der Tasche. »Gott hab ihn selig.«
»Ja, Mama, hab ihn Gott, wie er es verdient«, faucht Sole, und auch wenn diese Worte an sich nichts Böses bedeuten, nimmt ihre Mutter den Hass darin wahr und sieht sie erstaunt an.
»Wie redest du von deinem Onkel? Ich dulde nicht, dass du es meinem Bruder gegenüber an Respekt fehlen lässt, hast du
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