Töchter des Schweigens
mich verstanden, Marisol?«
»Tu mir den Gefallen, und nenn mich nicht so, Mama. Es geht mir auf die Nerven.«
»Über die Brücke und dann geradeaus den Berg hoch. Antworte mir.«
Einige Sekunden lang überlegt Sole, ob es sich lohnt, endlich Klartext zu reden, ob dies der Moment ist, sich dem auszusetzen. Sie weiß, dass es nicht der ideale Zeitpunkt ist, und ahnt zugleich, dass sie, wenn sie es nicht jetzt tut, da eine konkrete Frage im Raum steht, unverrichteter Dinge wieder abreisen und es ihr Lebtag bereuen wird. Denn ihre Mutter ist nicht mehr jung, und wenn sie stirbt, ehe sie mit ihr darüber gesprochen hat, wird es bis zum Ende ihres Lebens in ihr weiterfaulen.
»Ich rede so von ihm, weil ich Onkel Ismael aus tiefster Seele hasse, Mama«, sagt sie schließlich, wobei sie sich um einen maßvollen Tonfall bemüht. »Und das hast du immer gewusst. Ich bin mir nur nicht ganz sicher, ob du auch weißt, warum.« Eine weitere rote Ampel hält sie auf und gibt Sole Gelegenheit, ihrer Mutter ins Gesicht zu sehen, die sofort den Blick abwendet und die Lippen zusammenpresst. »Du weißt es, stimmt’s?«, hakt sie nach, während sie versucht, aus dem unsteten Blick ihrer Mutter klug zu werden.
Damit ist die Frage, die sie schon ihr halbes Leben lang stellen möchte, endlich ausgesprochen. Ein Teil von ihr krallt sich verzweifelt an die schwache Hoffnung, ihre Mutter möge Nein sagen, sie hätte nichts gewusst, selbst wenn es gelogen wäre. Dass sie ihr sagen möge, sie hätte sich so etwas niemals vorstellen können, sie bemitleiden und trösten würde. Ein anderer Teil will, dass sie gesteht, will sie leiden sehen, will Gerechtigkeit, Rache. Das Gesicht der Mutter verkrampft sich, und sie schaut zur Seite, während ihre Hände das mit ihrem Monogramm bestickte Tüchlein wringen.
»Du hast es immer gewusst«, sagt Sole. Jetzt ist es keine Frage mehr, kein Verdacht; es ist eine Gewissheit, die sie innerlich versengt.
»Das waren unschuldige Spielchen, damit du Deutsch lernst«, murmelt ihre Mutter endlich mit abgewandtem Blick.
»Unschuldig?« Es ist fast ein Aufschrei, ohne dass sie sich dessen bewusst ist. Die Ampel wechselt zu Grün, und die Autos hinter ihnen beginnen, wild zu hupen.
»Außerdem kommt man über alles hinweg. Ich kann mich kaum noch erinnern«, sagt die Mutter nach einigen Sekunden des Schweigens.
»Wie sollst du dich erinnern? Du warst doch nicht dabei, du hast uns doch in diesem vermaledeiten Musikzimmer allein gelassen, obwohl du gewusst hast, was dort drinnen geschehen würde!«
»Nein … ich … ich meinte, ich habe schon fast vergessen, was …«
Sie kommen am Bahnhof vorbei, wo Sole kurz entschlossen auf den um diese Uhrzeit leer stehenden Parkplatz fährt und bremst, um ihre Mutter ansehen zu können.
»Was?«
Die Mutter starrt unverwandt auf die Silhouette des Berges Bolón, als wäre dort die Antwort zu lesen, sodass ihr erspart bliebe, sie auszusprechen.
»Was er mit mir gemacht hat.«
Sole braucht einen Moment, um zu begreifen, was ihre Mutter gerade gesagt hat.
»Hat er dich etwa auch vergewaltigt?« Ihre Stimme klingt tonlos, verblüfft. Die Mutter verzieht schmerzlich das Gesicht, als träfe sie das Wort, das Sole benutzt hat, wie ein Schlag in den Unterleib.
»Ich war noch sehr klein«, beginnt sie, macht lange Pausen zwischen den Sätzen, als könnte ihr Zögern verhindern, dass sie zum Ende gelangt. »Er war fünfzehn Jahre älter als ich, wie du ja weißt. Er war im Priesterseminar. Wenn er kam …, spielte er mit mir. Mit seiner Prinzessin, wie er sagte.«
»Das Zepterspiel.« Jetzt sieht Sole ihre Mutter nicht an, sondern schaut lieber auf die Bahngleise, die sich am Horizont vereinen.
»Ja«, sagt die Mutter sehr leise. »Schon möglich …, ich hab’s vergessen …«
»Wie konntest du das zulassen?«, schreit Sole. »Du hast gewusst, wie er war, wie konntest du ihn mit mir allein lassen?«
»Dein Vater und der Großvater waren einverstanden, dass er dir Deutschunterricht gibt.«
»Aber die wussten doch nicht …«
»Nein. Natürlich nicht. Und ich auch nicht, Marisol …«, sie sieht den Zorn im Blick ihrer Tochter und korrigiert sich, »… Sole. Ich dachte, in seinem Alter … da war er ja schon um die fünfzig … Ich weiß, dass er gern deine Haare angefasst hat, deine schöne, blonde Mähne …, und habe gedacht, es wäre nichts dabei, er hätte sich geändert.«
Plötzlich schlägt sie die Hände vors Gesicht und beginnt, verzweifelt zu
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