Töchter des Schweigens
nichts. Komm, wechseln wir das Thema, sie sind da.«
»Aber nachher reden wir weiter.«
»Was soll das? Es macht dir wohl Freude, einen Priester auf Abwege zu bringen!« Er sagt es lächelnd und in scherzhaftem Ton, aber Marisa wird ernst.
»Es macht mir Freude, einen Freund zu ermutigen, sein Leben nicht zu vergeuden.« Sie erhebt sich, lässt die halb leere Cola stehen und geht ihren Schülerinnen entgegen, die lachend auf sie zukommen, schick angezogen und geschminkt, mit frisch gewaschenen Haaren und einem Glanz in den Augen, wie man ihn nur mit achtzehn hat.
Kurz darauf sitzen sie alle im Minibus, Marisa auf dem Platz neben dem Fahrer.
In Palma treffen sie auf die Jungen, und nachdem sie eine Viertelstunde Schlange gestanden haben, betreten sie eine Riesendiskothek, wo sie sich allmählich in Pärchen und kleine Gruppen aufteilen. Es herrscht eine feuchte Hitze, die zusammen mit den Rauchschwaden über den verschiedenen Tanzflächen fast den Atem raubt, die Musik dröhnt in voller Lautstärke, der Alkohol fließt in Strömen und benebelt ihnen langsam die Sinne, sodass sie aus dem Lachen gar nicht mehr herauskommen.
An einem etwas abseits stehenden Tisch, wo die Musik nicht ganz so laut ist, sitzen sich Don Telmo und Doña Loles gegenüber und streiten sich. Schon von Weitem sieht man, dass sie ein Gespräch führen, bei dem alle anderen überflüssig sind, und die Schüler machen vorsichtshalber einen Bogen um sie. Don Javier steht an der Theke und trinkt einen Cuba Libre. Er wirkt ein wenig verloren ohne Doña Marisa, die an seiner Seite zu sehen allen zur Gewohnheit geworden ist, also gehen Carmen und Ana zu ihm, um ihm Gesellschaft zu leisten, und versuchen, ihn mit auf die Tanzfläche zu schleppen, bis er sie wegscheucht und wieder allein bleibt, den Blick starr auf den Spiegel hinter dem Tresen gerichtet, der den ganzen im bunten Neonlicht flackernden Saal reflektiert. Er weiß, dass er Marisa ungewollt verletzt hat, was er bedauert, aber er fühlt sich bedrängt, wenn sie ihm immer wieder mit derselben Lösung kommt: »Gib es auf.« Wie sollte er seine Berufung, seine Bestimmung, seine einzige Sicherheit aufgeben? Wozu sind die vielen Jahre im Priesterseminar gut gewesen, die vielen Opfer, die er hat bringen müssen, wenn er jetzt alles über Bord wirft, bloß weil er sich nicht in ein abgelegenes Dorf schicken lassen will, um das zu tun, was er gelernt hat, was er sich selbst ausgesucht hat? Er weiß jedoch, dass es nicht nur darum geht, nicht nur um seine Angst vor Langeweile und Einsamkeit. Sein Hauptproblem, für das er keine Lösung sieht, besteht darin, dass er sich mit vielen Dingen, die er mit siebzehn Jahren für richtig, offensichtlich und notwendig erachtete, nicht mehr identifizieren kann; dass er nicht mehr versteht, warum die Botschaft Christi, so mutig, so revolutionär, zunehmend an das sechste Gebot gebunden sein muss, an etwas, das im Vergleich zu den wirklich wesentlichen Fragen im Grunde unbedeutend ist; dass es ihn stört, weder mit dem Herzen noch mit dem Kopf auf die vollkommen berechtigten Zweifel seiner Schülerinnen eingehen zu können, weil er sich auf die offizielle Version beschränken muss, an die er längst nicht mehr glaubt. Als Ana vor einigen Monaten wissen wollte, ob er es normal finde, dass der Generalísimo Franco bei Prozessionen unter einem Baldachin geht, was doch ein Zeichen der Anbetung und eigentlich nur der Heiligen Hostie vorbehalten sei, konnte er ihr nur stammelnd zur Antwort geben, dies sei eine besondere Ehre, die der Papst dem Caudillo für seine Verteidigung der katholischen Religion zugesprochen habe, und weder ein Dorfpfarrer noch eine Abiturientin hätten das Recht, dem Heiligen Vater in Rom zu widersprechen. Ana sagte daraufhin nichts mehr, aber er schämte sich vor sich selbst, denn auch er empfindet es als Skandal, hat sich aber nicht getraut, es auszusprechen.
Und in den Fällen, in denen er stolz auf sich und sein Verhalten war – beispielsweise als eine seiner Schülerinnen schwanger wurde und er mit ihren Eltern, ihrem Freund und dessen Eltern gesprochen hatte und sie alle überzeugen konnte, dass eine Ehe die beste Lösung war –, musste er sich auch vor dem Bistum verantworten, weil ihm der Bischof vorwarf, seinen Schülerinnen den Wert der Jungfräulichkeit und der sexuellen Abstinenz nicht vermittelt zu haben. Er kann machen, was er will, gut ist es nie. Man hat seine Gedanken, seine Gefühle und natürlich seine Worte geknebelt.
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