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Töchter des Schweigens

Töchter des Schweigens

Titel: Töchter des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: barcelo
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Schaukelstuhl im Wohnzimmer, während meine Mutter das Abendessen für sie beide richtete – ich hatte am Spätnachmittag ausgiebig gespeist –, er sang mir etwas vor, und ich klammerte mich wie ein Äffchen an seine Jacke und atmete den Geruch nach Staub und Bakelit und einem Hauch von Rasierwasser; Floyd hieß die Marke.
    Aber in allen meinen Erinnerungen seit der Grundschule ist Geschmack das bestimmende Element: die Bonbons, von denen ich dir schon geschrieben habe, die Anisstäbchen, die Mürbeteigplätzchen mit Sirup, das Eis von Daniel, das er nur im Sommer verkaufte: Schokolade und Vanille, mehr Sorten gab es nicht. Erinnerst du dich noch an Daniels blauweißen Karren mit den beiden Eisbehältern unter silbernen Deckeln?
    Der Geschmack der Süßholzstöckchen, die schwarze, zähe Lakritze, das Brausepulver mit Apfelsinenaroma, das auf der Zunge explodierte, die Schmalzbrötchen am Nachmittag, salzig und knusprig, die weichen, mit gegrilltem Fleisch belegten Milchbrötchen, das Quittengelee meiner Oma, die gefüllten Marzipanröllchen, die man »Knochen der Heiligen« nennt, im November, zum Tag der Unbefleckten Empfängnis die ersten eingelegten Oliven, noch grün und bitter, das süße Schmalzgebäck zu Weihnachten, die aufwändig verzierten Osterkuchen, die Mispeln und Kirschen im Juni, im Sommer die Tomaten mit dem gelben Staub und dem köstlichen Schwefelgeruch … jede Jahreszeit war begleitet von einem bestimmten Geschmack, auf den man sich monatelang freute. Und in unserer Kindheit waren ein paar Monate ein ganzes Leben.
    Heutzutage gibt es alles zu jeder Zeit, und auch die Tomaten schmecken nicht mehr wie früher.
    Kürzlich war ich zufällig in der Gegend, in der Remes Mutter vor dreißig Jahren ihren Friseursalon hatte; erinnerst du dich noch an Reme? Bei der Gelegenheit habe ich auch gleich nachgesehen, ob die Konditorei noch existiert, wo wir die Süßigkeiten für unsere kleinen Feste kauften, die wir mit etwa fünfzehn Jahren manchmal sonntags dort veranstalteten, im »Salon Petra, Spezialität Dauerwelle«. Mit einem Mal waren mir alle Arten von Backwaren, die es damals gab, wieder gegenwärtig: cremegefüllte Blätterteighörnchen, Liebesknochen, Halbmonde, likörgetränkte Kuchen … und das Wasser lief mir im Mund zusammen, als ich mir ihre Farben, Konsistenzen, Formen in Erinnerung rief. Ich hätte ein ganzes Blech voll allein aufessen können.
    Aber das gibt es dort alles nicht mehr. Jetzt machen sie nur noch diese in allen Farben glasierten Miniaturkuchen, die sie Petit Fours nennen, und Design-Torten, die so schön sind, dass es einem leid tut, sie aufzuessen, und auf die ich längst nicht diesen Heißhunger verspüre wie auf die Hörnchen und Biskuits von damals.
    Unsere Welt geht unter, Sole. Und es stimmt nicht, wie manche unserer Altersgenossen behaupten, dass unsere Zeit die ist, in der wir jetzt leben. Jedenfalls nicht für mich. Ich lebe in der Vergangenheit, wie du weißt. Dabei ist meine Gegenwart gar nicht so schlecht, ich kann mich über nichts beklagen, aber manchmal kommt mir das, was mich umgibt, verglichen mit meinen Erinnerungen farblos vor. Wahrscheinlich liegt das daran, dass ich viel allein bin und viel Zeit zum Nachdenken habe. Vielleicht werde ich auch einfach alt, obwohl ich einen Computer habe und mich über Musik und Film auf dem Laufenden halte, obwohl ich frisch erschienene Romane übersetze, ab und zu einen Schwatz mit den Mädels halte und wir uns immer noch an jedem achtundzwanzigsten Dezember in der alten Bar treffen, wie wir es vor mittlerweile dreiunddreißig Jahren ausgemacht haben. Die Clique vom 28sten. Weißt du noch? »Egal, was geschieht, ob wir weit weg leben, verheiratet sind und zehn Kinder haben, egal, was geschieht, an jedem achtundzwanzigsten Dezember sind wir alle sieben in der Kneipe.«
    Rita hat sich nie wieder blicken lassen, du auch nicht. Ich habe in der Zeit, in der mir die Welt zu klein wurde, mehrere Jahre gefehlt. Carmen erzählte mir, einmal, vor Jahren, als ihre Tochter noch im Kinderwagen lag, habe sie sie warm eingepackt, da sie niemanden hatte, der auf sie aufpassen konnte, und sei in die Bar gegangen, weil sie danach lechzte, uns zu sehen und zu berichten, was ihr in diesem fürchterlichen Jahr widerfahren war, in dem sie sich plötzlich mit einem Kind, einem Ehemann, einer hastig mit alten Möbeln eingerichteten Wohnung wiederfand, ohne Studium, ohne Zukunft, ohne Hoffnung.
    Und keine ist gekommen, Sole. Sie setzte sich an

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