Töchter des Schweigens
es sei denn, es wird in Situationen besonderer Anspannung durch »schwachsinnig« ersetzt. Aber diesmal will sie nicht reagieren wie sonst. »Wenn du zu neuen Ergebnissen gelangen willst, darfst du nicht immer dasselbe machen«, wie Einstein sagte, also entscheidet sie sich für etwas Neues und fragt rundheraus: »Wie viel Geld hast du, Carmen?«
»Und was geht dich das an?«
»Hunderttausend Euro?«
»Ja. Und mehr. Warum?«
»Weil du dir dann einen vollständigen Entzug leisten kannst, das wäre das Erste. Und hinterher könntest du für eine Weile zu mir nach Kuba kommen, und später könnten wir beide zusammen irgendwo ein Unternehmen gründen.«
»Ein Unternehmen? Was denn für eines?«
»Das überlasse ich dir.«
Carmen fängt an zu lachen und schaut ihre neu aufgelebte Freundin aus schmalen Augen an.
»Meinst du das im Ernst?«
»Absolut.«
Zu schön, um wahr zu sein, denkt Carmen. Abhauen, mit allem brechen, neu beginnen. Wieder lacht sie auf, aber diesmal ist es ein verheißungsvolles Lachen.
»Das wäre Wahnsinn«, sagt sie nach ein paar Minuten.
»Mag sein«, gibt Sole zu, den Mund voll Zwieback mit Marmelade. »Aber wenn wir es nicht jetzt tun, wann dann?« Sie kaut, schluckt, schiebt den Teller weg und sagt mit einer Leidenschaft, wie sie Carmen von der jungen Sole gar nicht in Erinnerung hat: »Weißt du, uns haben sie noch dazu erzogen, etwas aus unserem Leben zu machen, Träume zu haben und dafür zu kämpfen, wirklich zu kämpfen, Schritt für Schritt, Tag für Tag. Nicht wie unsere Kinder, die bereits in einer Gesellschaft aufgewachsen sind, die ihnen nur zwei widersprüchliche Lügen weismacht: Entweder kannst du alles erreichen, was du willst, so abgedreht es auch sein mag, wenn du es dir nur fest genug wünschst. Oder aber du gehörst der Generation ohne Zukunft an und wirst, was immer du tust, niemals aus dem Loch herauskommen, aus den ausbeuterischen Arbeitsverträgen, aus der Wohnung deiner Eltern. Uns hat man noch gelehrt, dass es Träume gibt, die sich nicht verwirklichen lassen, aber wenn du etwas unbedingt willst und bereit bist, alles dafür zu tun, mit all deiner Kraft, dann hast du eine Chance. Das Problem ist, dass sie heute alles schnell und ohne Anstrengung haben wollen. Wenn du Sängerin werden willst, musst du nicht singen können, du brauchst lediglich Glück und Beziehungen. Und wenn du es in zwei Jahren nicht geschafft hast, bist du ein Loser, und das war’s dann.«
»Na ja, dafür, dass wir zu einer anderen Generation gehören, haben wir uns ja auch nicht gerade hervorgetan.«
»Weil wir vor dreiunddreißig Jahren einen Fehler gemacht haben. Weil wir uns selbst die Flügel gestutzt und gedacht haben, wir könnten, statt unseren eigenen Weg zu gehen, leben wie unsere Mütter, abhängig von einem Mann, den wir für alles um Erlaubnis fragen.«
»Ich habe nie für etwas um Erlaubnis gefragt.«
»Deshalb bin ich ja auch noch verheiratet und du zweimal geschieden, aber im Grunde ist es das Gleiche. Keine von uns hat nach jenem Sommer den Mut aufgebracht, das zu tun, was sie wirklich tun wollte.«
Carmen steht auf, fast zornig.
»Es hängt mir zum Hals raus, dass an jedem Scheitern immer der Sommer 74 schuld sein soll. Es reicht langsam, verflucht, es reicht!« Sie nähert sich wieder dem Tisch und streckt Sole die Hand hin. »Schlag ein! Besser spät als nie! Abgemacht, Partnerin?«
Sole drückt ihr feierlich die Hand und wirkt mit ihrem spitzbübischen Lächeln plötzlich viel jünger.
»Ich möchte bitte zu Manolo Cortés«, sagte Candela am Empfang der Baufirma in ihrem gewohnten herrischen Ton, dem auch die höfliche Formulierung nichts von seiner Schärfe nahm.
Doch bevor die Empfangsdame Manolo anrufen konnte, öffnete sich eine Tür, und er trat heraus, einen Helm am Arm und in der Hand einen klimpernden Schlüsselbund.
»Mensch, Candela! Was führt denn dich hierher? Hast du dich endlich entschieden, mir eine Wohnung abzukaufen? Wir bauen gerade ein paar Häuschen in Altea, da werden dir die Augen übergehen … Vom Allerfeinsten.«
Candela schenkte ihm ihr berühmtes kaltes Lächeln.
»Schon möglich. Hast du eine Minute Zeit?«
»Aber klar doch, selbstverständlich, was gibt’s?«
»Und ein Büro hast du doch sicher auch«, sagte Candela mit einem Blick auf die Empfangsdame.
»Ja, natürlich, komm rein. Mäuschen! Dass uns niemand stört, verstanden? Und keine Anrufe durchstellen.«
»Wie Sie wünschen, Don Manuel.«
»Schieß los.«
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