Töchter des Schweigens
auch nicht immer alles wissen.«
Marga verzieht sich in das große Badezimmer und verbringt fast eine Stunde damit, sich aufzumotzen, wie ihr Bruder sagt. Sie hat sich noch nie schön gefunden, nicht einmal auf dem Silvesterball, obwohl sie da schon in männlicher Begleitung war und ihr alle gesagt haben, wie hübsch sie sei. Es gibt vieles an ihr, das ihr nicht gefällt: ihre Größe, ihre flachen Brüste, die eckige Figur, der kein Kleid steht, Hosen aber dafür umso besser, wie ihre Freundinnen sagen.
Ana vergleicht sie immer mit Katharine Hepburn, einer resoluten Frau mit einer starken Persönlichkeit, an der Rüschen, Schleifen und tiefe Dekolletés lächerlich aussähen, die in Hemd und Hose aber unübertrefflich ist. Sie würde lieber der anderen Hepburn ähneln, Audrey, aber man ist nun mal, wie man ist, sagt sie sich seufzend, während sie sich bemüht, irgendwie ihre Haare in Form zu bringen, die dank des verflixten Stufenschnitts in sämtliche Himmelsrichtungen stehen.
Plötzlich fasst sie den Entschluss, an diesem Abend auf die Brille zu verzichten. Es ist eine sehr schwache Brille, aber sie hat sich angewöhnt, sie zu tragen, quasi als Barriere zwischen sich und der Welt. Sie mag das Gewicht auf der Nase, sie schiebt sie hoch, nimmt sie ab, spielt damit. Wenn sie sich schon nicht sexy findet, fühlt sie sich so wenigstens intellektuell.
In ein Handtuch gewickelt, verlässt sie das Bad, erreicht ihr Zimmer, ohne jemandem zu begegnen, und sieht, dass ihre Mutter den Overall übers Bett gebreitet und den seltsamen Büstenhalter danebengelegt hat, der nur aus zwei selbstklebenden Halbmonden besteht, damit keine Träger zu sehen sind. Aus der Schublade holt sie den Slip, den ihr Magda letzten Sommer aus London mitgebracht hat und den sie noch nie getragen hat. Er ist schwarz, klein und seitlich mit einem fuchsiafarbenen Herz bestickt. Ihr Magen zieht sich zusammen, als sie sich vorstellt, wie Manolos Finger über das Herzchen streicht, und rasch weist sie den Gedanken von sich. Soll er ruhig leiden! Sie mag ihn, aber sie hat es nicht eilig damit, sich überall anfassen zu lassen, wie einige ihrer Freundinnen, Carmen zum Beispiel, die im Copacabana mit jedem knutscht, den sie zu fassen kriegt. Sie selbst ist eher wie Tere, ernsthafter, verantwortungsvoller.
Sie hört ihre Mutter rufen, Manolo sei schon da, und zieht hastig den langen Reißverschluss des Overalls zu. Den Knoten im Nacken kann sie nicht allein binden, wenn die Bänder anmutig über den Rücken fallen sollen.
»Mama!«, ruft sie. »Kannst du mal kommen?«
Sie hört sie in der Küche über irgendeinen Blödsinn lachen, den Manolo ihr erzählt. Ihre Mutter findet ihn hinreißend und hätte ihn nur zu gern zum Schwiegersohn. Er ist aus gutem Haus, absolviert auch gerade seinen Vorbereitungskurs auf die Universität, hat allerdings ein Jahr wiederholt. Sein Vater besitzt eine gutgehende Fabrik und ist reich geworden, weil die Amerikaner festgestellt haben, dass die spanischen Schuhe genauso gut sind wie die italienischen, nur viel billiger. Manolo wird natürlich BWL studieren und früher oder später die Fabrik übernehmen. Dann kommen die Hochzeit, das Haus mit Schwimmbad und Tennisplatz, zwei Kinder und ein sorgloses Leben. Das ist allen sonnenklar.
Aber daran will sie nicht denken. Jetzt kommt erst einmal ihre Party, dann die Abiturprüfung und danach die Mallorca-Reise. Hinterher der Sommerkurs in London – zu ärgerlich, dass sie ihre Eltern im vergangenen Jahr nicht hatte überreden können, sie mit Magda fahren zu lassen –, dann Valencia, die Universität, wo sie nach harten Kämpfen mit ihrer Familie schließlich Kunstgeschichte studieren wird. Insgeheim hat sie den Verdacht, dass ihre Eltern nur deshalb ihre Zustimmung zu einem Fach mit so schlechten Zukunftsaussichten gegeben haben, weil sie das Studium im Grunde für überflüssig halten und fest davon ausgehen, dass sie gleich nach dem Abschluss Manolo heiraten wird.
Die Mutter tritt ins Zimmer und betrachtet sie verblüfft. Marga wirft einen Blick in den Spiegel, um herauszufinden, worauf der Gesichtsausdruck ihrer Mutter zurückzuführen ist, denn sie hat ja lediglich die Brille abgesetzt und lange Ohrringe angelegt.
»Mein Kind!«, sagt sie schließlich. »Du bist wunderschön!«
Sie schließt Marga fest in die Arme und flüstert ihr ins Ohr: »Du bist entzückend, Marga, einfach entzückend.«
Als sie sich voneinander lösen, hat die Mutter feuchte Augen und einen
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