Töchter des Schweigens
Siebzigerjahren noch nicht in Mode war, es aber heute sein könnte, wie Ingrid meint, wenn Rita nicht so stur auf ihrem nachlässigen Kleidungsstil beharren würde.
Sie ist zufrieden mit ihrem Leben. Ihre Arbeit gefällt ihr. In London, der Stadt, die sie sich ausgesucht und in der sie über dreißig Jahre verbracht hat, fühlt sie sich wohl. Sie hat ein Haus, ein Auto, einen kleinen Freundeskreis, dem sie vertraut. Sie hat Ingrids Freundschaft, und diese Beziehung ist die beste Partnerschaft, die sie je im Leben gehabt hat. Sie hat Glynis und Shane, zwei Kinder, die sie als ihre eigenen empfindet, obwohl sie es nicht sind.
Und dennoch …
Dennoch ist da etwas, das sie nicht hat und nicht einmal definieren kann. Ihre Wurzeln vielleicht. Ihre Vergangenheit. Ihre Zugehörigkeit zu etwas, dessen sie sich kaum noch entsinnen kann.
Die Stille dehnt sich und dehnt sich, bis sie unerträglich wird. Die Clique vom 28sten, am Ende der Unschuld, lächelt weiter vom Tisch.
Sie drückt die Zigarette aus, löscht die Lampe, steigt aus den Stiefeln, vorsichtig, um keinen Lärm zu machen, zieht sich rasch aus, streift das Nachthemd über, und statt in ihr Zimmer zu gehen – Tante Doras Schlafzimmer –, legt sie sich in das große Gästebett neben Ingrid, die sich kaum regt und sofort wieder entspannt.
Rita atmet das Parfüm ihrer Freundin ein, die Handcreme mit dem Pfingstrosenduft, und sinkt langsam in den Schlaf.
Die Türklingel ließ sie hochfahren. Es musste schon ziemlich lange geläutet haben, denn in ihrem Traum hatte sie die Sirene eines Krankenwagens oder eines Polizeiwagens gehört, genau wusste sie es nicht mehr, erkannte aber jetzt, was es wirklich war: jemand, der schon seit geraumer Zeit vor der Tür stehen musste.
Sie taumelte aus dem Bett, setzte die Brille auf, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, das am Hinterkopf ganz zerdrückt war, wie sie zwischen den Stoffblumen, mit denen der Garderobenspiegel verziert war, erkennen konnte.
»Ich bin’s. Ingrid«, sagte die Stimme in der Gegensprechanlage. »Ich habe uns was zum Frühstück gekauft.«
Während ihre Freundin die drei Stockwerke heraufkam, ging Rita in die Küche und öffnete die Schränke auf der Suche nach Tee oder Kaffee, bis ihr klar wurde, dass sie aus dem, was sich noch in Tante Doras Küche fand, keines von beidem würde zubereiten können. Die Tante war seit über einem Jahr tot, und sowohl der Tee als auch der Kaffee dürften längst das Aroma verloren haben. Also ging sie ins Arbeitszimmer, um sich eine Zigarette anzuzünden, und dann Ingrid entgegen, die strahlend hereinkam, in der Hand ein Konditoreipäckchen und eine Plastiktüte. Die Wohnung schien sich über Nacht gewandelt zu haben, und auch wenn die Einrichtung Rita immer noch Brechreiz verursachte, war sie mittlerweile nicht mehr unwirklich oder beängstigend. Es war einfach die Behausung einer alten Frau, vollgestopft mit Plunder, Nippes und Andenken, die von einem grausigen Geschmack zeugten.
»Du bist spät ins Bett gegangen, nehme ich an.«
»Gegen drei«, sagte Rita und sah nach, was Ingrid mitgebracht hatte.
»In mein Bett.«
»Was dagegen?«
»Aber nein, was soll ich dagegen haben? Aber es bedeutet …«
»Ja.«
»Albträume?«
»Denen habe ich erst gar keine Chance gegeben. Bin gleich zu dir ins Bett gekrochen.«
»Angst also.«
»Natürlich.«
Ingrid ergriff ihre Hände und setzte sich ihr gegenüber.
»Aber wovor denn, Liebes? Vor ein paar Jugendfreundinnen, die sich bestimmt riesig freuen, dich wiederzusehen?«
»Woher willst du wissen, dass sie sich freuen?«
Ingrid stieß einen tiefen Seufzer aus, begann die Tüten auszupacken und kochte Kaffee für Rita und Tee für sich.
»Es war Teresa, die dich benachrichtigt hat, als letztes Jahr deine Tante starb, und vor kaum zwei Monaten hat sie dich in London angerufen, und ihr habt ausgemacht, euch zu sehen, sobald du hier bist. Sie hat es übernommen, euer Treffen heute Nachmittag zu organisieren. Sie hat dir gesagt, sie würden darauf brennen, dich zu sehen.«
»Ja, sicher. Weil vergangenen Monat etwas über mich in der Kulturbeilage von El País gestanden hat, und dabei ist ihnen eingefallen, dass sie ja jetzt eine berühmte Freundin haben. Oder zumindest glauben sie das.«
»Dass du berühmt bist?« Ingrid starrte sie verdutzt an. »Aber das bist du doch.«
»Dass ich ihre Freundin bin«, sagte Rita düster und zerquetschte den Zigarettenstummel auf dem Tellerchen mit den gelben Rosen, das sie
Weitere Kostenlose Bücher