Töchter des Schweigens
wendet sich einer Gartenanrichte zu und entfernt die Alufolie von einem Tablett, das schon die ganze Zeit dort gestanden hat: ein Sortiment von Kanapees, hübsch wie Schmuckstücke.
»Komm, setz dich hin und iss etwas, während ich dir die Geschichte erzähle.«
Rita fällt auf den Stuhl, als hinge sie an den Fäden eines Puppenspielers. Candela zögert einen Moment und schiebt sich ein Kanapee in den Mund, dann nimmt sie eine Flasche Cava aus dem Sektkühler, öffnet sie mit zwei präzisen Handgriffen und füllt die Gläser.
»Wenn ich sehr kühl klinge, liegt das daran, dass ich fünfzehn Jahre Zeit gehabt habe, es zu verdauen. Es berührt mich nicht mehr. Auf uns!«
Sie stoßen an, trinken, und Candela erzählt weiter.
»Eine ungefähr vierzigjährige Frau suchte mich wegen einer ganz ordinären Scheidungssache in der Kanzlei auf. Sie hieß – na ja, ich nehme an, sie heißt immer noch – Isabel Ortega Navarro. Der Name kam mir natürlich bekannt vor, doch fiel mir die Verbindung nicht sofort ein. Sie schilderte mir ihren Fall, und dann sagte sie, sie habe meine Kanzlei gewählt, weil sie noch nie einen Anwalt gebraucht habe, und als sie jetzt einen suchte, auf meinen Namen gestoßen sei. Sie wüsste, dass ihre jüngere Schwester und ich im Gymnasium Busenfreundinnen gewesen seien. Mir blieb die Spucke weg, das kannst du dir ja denken. Man konnte Mati ja als alles Mögliche bezeichnen, aber niemals als meine Busenfreundin. Dann zeigte mir die Frau diesen Ausweis, und während sie die eine oder andere Träne verdrückte, erzählte sie mir, was Mati über uns gesagt hatte, über unsere Zukunftspläne und das alles. Und dann gab sie mir das hier.« Candela wies mit angewiderter Geste auf das Ringbuch. »Sie sagte, sie hätten Matis Sachen längst weggeworfen, aber dieses Heft hätte sie aufgehoben wegen seines sentimentalen Werts. Stell dir vor: sentimental! Und da sie mich jetzt kennengelernt habe, halte sie es für richtig, dass ihre beste Freundin es haben sollte, weil Mati darin Dinge aus unserer gemeinsamen Zeit festgehalten habe. Sie selbst sei nie mutig oder neugierig genug gewesen, es zu lesen. Ich weiß nicht. Vielleicht stimmt das sogar, denn wenn sie es gelesen hätte, wäre ihr aufgegangen, dass ihr süßes Schwesterchen eine Erpresserin war, und dann hätte sie es mir nie ausgehändigt.«
»Hast du es gelesen?«, fragt Rita.
»Ja. Viele Male. Es ist pure Scheiße, typisch Mati.«
»Was steht drin?«
»Ich will dir die Überraschung nicht vermasseln. Aber wie gesagt, es geht klar daraus hervor, dass es jede von uns getan haben könnte. Selbst du, Rita. Oder hättest du damals etwa gewollt, dass herauskommt, was wir miteinander hatten? Du bist ja bis heute nicht imstande, es zuzugeben …«
Wütend springt Rita auf. Die Gläser schwanken auf dem Tisch.
»Du weißt, dass es das nicht war! Du weißt nur zu gut, dass ich dich damals …!«, schreit sie, und dann versagt ihr die Stimme.
»Was, Rita? Dass du mich damals was?« Candela ist aufgestanden, geht zu ihr, fasst sie mit hartem Griff an den Schultern und sucht ihren Blick.
»Ich habe dich geliebt, Candela«, sagt Rita endlich, sehr leise, ohne die Augen abzuwenden. »Ich habe dich geliebt, weißt du nicht mehr? Ich war verliebt in dich. Erinnerst du dich nicht mehr an die Nacht auf Mallorca?«
Candela umarmt sie fest, und noch ehe sie wissen, was sie tun, küssen sie sich bereits ungestüm, als wäre die Zeit stehen geblieben, als wären sie wieder achtzehn und auf Klassenfahrt.
»Entschuldige, Rita.« Teresa, die eine Küchenschürze umgebunden hatte, war wieder ins Wohnzimmer gekommen. »Wenn ich nicht aufpasse, haben wir kein Abendessen. Um ein Haar wäre es mir angebrannt. Soll ich Candela anrufen und fragen, was wir jetzt am besten machen?«
Rita starrte sie aus weit aufgerissenen Augen an und wusste weder, wovon Teresa sprach, noch, wo sie war.
»Wenn du einen Anwalt brauchst, wird Candela dich beraten können. Du hast sie doch kürzlich gesehen, oder nicht?«
»Vorgestern.«
»Und was für einen Eindruck hat sie auf dich gemacht?«
»Einen guten. Es geht ihr gut.« Die Unterhaltung kommt Rita allmählich absurd vor. Sie will Teresa nicht erzählen, was sich in Candelas Wohnung abgespielt hat. Teresa weiß nichts von Matis Notizbuch und auch nicht, dass Candela und sie vor dreißig Jahren von einer gemeinsamen Zukunft geträumt haben, und auch nicht, dass sie sich eingestehen muss, Candela noch immer zu lieben, obschon
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