Töchter des Schweigens
sprechen sollte, das von seinen Mitschülerinnen ermordet wurde. »Stell dir vor, Lena hat es gesehen und das Geheimnis ihr Leben lang bewahrt, hält es aber jetzt plötzlich nicht mehr aus und sagt es dir. Dir. Der heiligen Margarita, Schutzpatronin der Geheimnisse.
Was willst du dann tun? Die Schuldige anzeigen?«
Rita wendet sich ab und schaut übers Meer, tiefschwarz jenseits des Hafens und der Lichter, die bunte Streifen aufs Wasser malen.
»Ich habe es nie wissen wollen, Candela«, sagt sie, ohne sich umzudrehen. »Im Gegensatz zu Mati, die alles wusste und über alles Buch führte, wollte ich immer nur vergessen, was man mir erzählte. Weil man mir nie etwas Gutes erzählt hat. Und wer sich seinen Kummer von der Seele geredet hatte, bereute es hinterher und schämte sich furchtbar, weil ich ja nun wusste, was niemand wissen sollte.«
»Aber wenn du wüsstest, wer von uns es getan hat, was würdest du dann tun? Würdest du diejenige nach dreiunddreißig Jahren der Justiz ausliefern?«
Rita, noch immer mit dem Rücken zu Candela, schüttelt den Kopf.
»Nein. Ich glaube nicht. Aber dann wäre nichts mehr wie früher. Ich könnte diejenige nicht mehr anschauen und das Mädchen aus meiner Schule sehen, die Freundin, die in jener Zeit so wichtig für mich war. Ich glaube, ich würde durchdrehen. Ein paarmal war ich schon nah dran. Ich habe mehr Depressionen gehabt als die meisten Leute, die ich kenne.«
»Dann geh doch nicht hin. Denn höchstwahrscheinlich weiß sie gar nichts, jedenfalls nicht mehr als du oder ich, allerdings könnte sie sich aus den Bruchstücken jener Nacht im Lauf der Jahre eine eigene Geschichte zusammengereimt und schließlich selbst daran geglaubt haben. Du kannst nicht wissen, ob es so war oder nicht, aber es wird dich verbittern.«
»Und wenn wir alle zusammen darüber reden würden?« Jetzt dreht sie sich um und sieht Candela erwartungsvoll ins Gesicht.
»Gruppentherapie?« Candelas abfälliges Grinsen ist so kalt wie das Eis in ihrem Glas. »Nach all der Zeit? ›Ich heiße Rita und bin eine Mörderin‹ oder so?«
»Nie haben wir uns an einen Tisch gesetzt und einmal alles zusammengetragen, was jede Einzelne von uns weiß. Das könnte Klarheit bringen.«
»Sieh mal, Rita, das ist kein Roman von Agatha Christie, das ist die Realität.« Candela steht auf, nimmt das Ringbuch vom Tisch und geht auf Rita zu, die sich ein wenig duckt. »Hier steht alles drin. Alle hatten wir gewichtige Gründe, sie loszuwerden. Alle fühlten wir uns erleichtert nach ihrem Tod. Das ist eine Tatsache, daran gibt es nichts zu rütteln. Wem ist damit gedient, wenn wir jetzt anfangen, den Schlamm wieder aufzuwühlen? Das Leben ist kurz, wir sind keine Kinder mehr, viel Zeit bleibt uns nicht, und die sollten wir genießen.«
»Was wusste Mati von dir?«, fragt Rita mit bebenden Lippen.
»Außer dass ich auf Mädchen stand und in dich verliebt war? Und dass damit der Ruf meiner Familie ruiniert gewesen wäre? Du erinnerst dich doch an meine Familie, oder nicht? Witwen und alte Jungfern. Betschwestern. Kirche, Sección Femenina und Trauerkleidung. Alles, was sie besaßen, war ihr Leumund, die Achtung der Dorfbewohner.« Sie senkt den Blick. »Schau dir das an.« Diesmal hält Candela ihr einen Ausweis der Stadtbücherei von Alicante hin, alt und vergilbt, mit einem Schwarzweißfoto in der rechten Ecke. Aus der zweidimensionalen Fläche blickt ihnen mit biestiger Miene Mati entgegen. »Achte auf den Namen.«
Rita nimmt den Ausweis mit spitzen Fingern, als wäre er verseucht, nähert ihn einer dicken weißen Kerze und liest »Candelaria Alcántara de Frías«. Die Karte fällt auf den Tisch und bleibt umgedreht liegen.
»Sie gab sich für mich aus, wann immer sie konnte. Ich habe erst sehr viel später davon erfahren. Zu Hause sprach sie unablässig von uns, vor allem von mir. Sie behauptete, ich wäre ihre beste Freundin und wir stünden uns so nah, dass wir manchmal sogar zum Spaß unsere Identität tauschten. Sie redete von unseren Plänen für die Universität, sagte, wir wollten das Gleiche studieren und zusammenwohnen. Ihre Familie war natürlich begeistert. Sie waren Bauern aus Novelda, und ich war die einzige Tochter einer der einflussreichsten und vermögendsten Familien von Elda. Sie stahl mir kleine Dinge und zog sich möglichst ähnlich an. Oder zumindest glaubte sie das.« Wieder das bellende Auflachen. »Ich bin erst vor etwa fünfzehn Jahren durch einen Zufall dahintergekommen.«
Candela
Weitere Kostenlose Bücher